In Frankreichs Südosten wird ein junger Mann vor einer Disco erschossen. Die Ermittler glauben, dass er ein zufälliges Opfer einer Abrechnung im Drogenmilieu war. Doch für Anwohner ist der Vorfall ein Beweis für beunruhigende Veränderungen. Nicolas Dumas ist das zweite Mordopfer innerhalb eines Jahres.
Nicolas Dumas hatte, das sagen seine Freunde, das Herz auf dem rechten Fleck. Er war einer, der sich schützend vor Schwächere stellte. Einer, der gerne half und zupackte. Er sei «un bon gars» gewesen, ein guter Junge, das hört man oft an diesem Novembernachmittag auf der Place Paulin-Pailherey in Romans-sur-Isère.
Etwa 2500 Menschen haben sich in der Kleinstadt im Südosten Frankreichs vor dem Haus seiner Familie zu einem Gedenkmarsch versammelt. Sie tragen weisse Rosen und T-Shirts, auf denen «Nico, für immer in unseren Herzen» steht. Auf zahlreichen Fotos ist ein junger Mann mit hellblau-weissem Trikot und selbstbewusstem Lächeln zu sehen, die Arme in Siegerpose in die Höhe gereckt. Nicolas Dumas war ein leidenschaftlicher Rugby-Spieler.
Trauriges Déjà-vu
Auch Gwladys und Éric Dumas halten sich an einem Transparent mit Porträtbildern von ihrem Sohn fest. Mit starrem Blick stehen sie in der ersten Reihe des Umzugs. Schliesslich hebt der Vater seine Hand in die Luft und beginnt zu gehen. Hinter ihm setzt sich schweigend ein Menschenzug in Bewegung. «Das ist ein grosser Schock für uns», flüstert Candice, eine Freundin des Toten. «Es ist das zweite Mal, dass es einen von uns trifft.»
Nicolas Dumas starb, nachdem er in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November vor einer Diskothek in Saint-Péray angeschossen worden war. Ein schwarzgekleideter junger Mann mit Sturmhaube und Pistole war gegen 2 Uhr 30 auf dem Parkplatz aufgetaucht. Einige hielten das zuerst für einen Halloween-Streich. Doch dann feuerte der Vermummte in die Menge der Wartenden, offenbar wahllos. Dumas wurde von einer Kugel am Kopf getroffen. Er wurde 22 Jahre alt.
Der Vorfall ereignete sich, gut ein Jahr nachdem bei einem Dorffest in Crépol der 16-jährige Thomas Perotto von einem Angreifer erstochen worden war. Perotto und Dumas waren Vereinskameraden, sie spielten beide im örtlichen Rugby-Klub Romanais Péageois. Für viele Leute aus der Umgebung ist der Gedenkmarsch deswegen ein Déjà-vu. Schon im vergangenen November hatten sie so ihre Wut und Trauer zum Ausdruck gebracht.
Damals versammelten sich in Romans-sur-Isère sogar 6000 Bürger zu Ehren des Toten. Der Fall löste einen nationalen Medienrummel und jede Menge Spekulationen aus. In der Assemblée nationale legten die Abgeordneten eine Schweigeminute für Thomas ein. Crépol, plötzlich in aller Munde, schien für viele weit mehr zu sein als eine aus dem Ruder gelaufene Schlägerei.
Passiert war nach bisherigen Erkenntnissen dies: Eine Gruppe von arabischstämmigen Jugendlichen hatte sich mit dem Sicherheitspersonal gestritten, offenbar war den jungen Männern der Zutritt zu einem Ball verwehrt worden. Es kam zu einem Handgemenge, auch Besucher des Dorffestes mischten mit. Unter noch immer ungeklärten Umständen erhielt Perotto einen tödlichen Messerstich. Sechzehn weitere Personen erlitten Verletzungen, zwei von ihnen schwere. Mehrere Zeugen berichteten, die Täter hätten geschrien, sie wollten «Weisse töten». Das führte dazu, dass die Staatsanwaltschaft auch wegen Mord und versuchten Mordes ermittelte.
Raunen über den «Frankozid»
Der rechtsextreme Politiker Éric Zemmour witterte nach der Tat «antiweissen Rassismus» und einen «Frankozid», die gezielte Tötung «alteingesessener» Franzosen. Aber auch die konservative Bürgermeisterin von Romans-sur-Isère, Marie-Hélène Thoraval, forderte die Justiz auf, den «rassistischen Charakter» der Angreifer anzuerkennen.
Der damalige Innenminister Gérald Darmanin wählte neutralere Worte, er sprach von gesellschaftlicher «Verrohung» und einem Autoritätsverlust des Staates an Orten, wo sich die Armut konzentriere. Die Polizei führte Razzien in Toulouse und La Monnaie durch, einem Problemquartier von Romans-sur-Isère, wo die meisten der Täter wohnten. Eine Woche nach dem Vorfall marschierten junge Rechtsextremisten mit Eisenstangen und Brandbomben durch La Monnaie und riefen zum «Bürgerkrieg» auf. Die Polizei verhinderte, dass Schlimmeres passierte.
Noch immer wird in dem Fall ermittelt. Neue Zeugenaussagen und Verhöre der Verdächtigen stellen das Narrativ eines geplanten Überfalls der Messerstecher mittlerweile infrage. So sollen sich einige der Angreifer schon vor dem Vorfall auf dem Dorffest aufgehalten haben. Das spricht dann doch eher für eine eskalierte Schlägerei.
Aber das Raunen über den «Frankozid» ist nicht verschwunden. Der Begriff hat Einzug gehalten in die sozialen Netzwerke und die öffentlichen Diskurse. Er wird verwendet, wann immer Migranten oder Franzosen mit Migrationshintergrund Morde begehen, wie im Fall der vergewaltigten Studentin Philippine, die Ende September in einem Pariser Stadtwald tot aufgefunden wurde. Und nun auch im Mordfall Nicolas Dumas.
In Romans-sur-Isère fällt das Wort am Rande der Prozession. «Manche sagen Frankozid. Ich sage, die Verbrechen von Ausländern gegen Franzosen nehmen zu. Das ist nichts, woran ich mich gewöhnen will», sagt Quentin Chizat, ein Bäcker und Mitglied des Rugby-Klubs. Der 25-Jährige ist zweifacher Vater. Er erzählt, dass er die beiden jungen Toten gut gekannt habe; mit Dumas habe er erst kürzlich noch ein Bier getrunken. «Wenn wir nicht aufpassen, wird es hier wie in Marseille enden.»
In die Schusslinie der Mafia geraten
Die Ermittler glauben, dass die Diskothek «La Seven», vor der Dumas starb, von einem Handlanger der organisierten Kriminalität heimgesucht worden ist. Der mutmassliche Täter, Hassan D., ein Italiener mit marokkanischen Wurzeln, wurde fünf Tage nach dem Mord an einem bekannten Drogenumschlagplatz in Marseille festgenommen. Spekuliert wird, dass er im Auftrag der sogenannten DZ-Mafia den Inhaber der Diskothek einschüchtern sollte. Ein Kenner der Szene berichtete dem «Figaro», dass die aus Marseille stammende Mafia ihre Geschäfte in die französische Provinz ausgeweitet habe und dort vermehrt Nachtklubs zur Geldwäsche benutze.
Dumas wäre demnach als «Kollateralopfer» in die Schusslinie von Drogenkriminellen geraten. Der 22-Jährige hatte seiner Mutter kurz nach Mitternacht noch eine SMS geschrieben: «Ich gehe heute Abend aus, mach die Tür nicht zu. Bis morgen, Mama, ich habe dich lieb.» Gwladys Dumas erfuhr wenig später von der Polizei, dass ihr ältester Sohn, den sie in der Familie zärtlich «Balou» und «Prinzessin» genannt hatten, mit einem Kopfschuss niedergestreckt worden war.
Der Gedenkmarsch endet an diesem Mittwoch im Donnadieu-Stadion von Romans-sur-Isère; dort, wo Dumas jede Woche trainierte. Seine Vereinskameraden und Freunde lassen Luftballons in den Farben des Rugby-Klubs aufsteigen. Dann spricht der Präsident des Klubs ein paar Worte, bevor ihm die Stimme versagt. Schliesslich reihen sich die Rugby-Spieler vor den Eltern von Nicolas auf, um sie zu umarmen.
Niemand hält eine weitere Rede. Auch nicht Marie-Hélène Thoraval, die Bürgermeisterin, die in der zweiten Reihe mitmarschiert war. Éric und Gwladys Dumas hatten um ein stilles und unpolitisches Gedenken gebeten. Nur eine ältere Frau hält eine Trikolore in den Händen und einen Zettel, auf dem «Es reicht!» steht. Mehr dazu sagen will sie nicht, sie entfernt sich wortlos.