Dienstag, Oktober 8

Er stellte früh die grossen Fragen: Was sind die mathematischen Grundlagen des Denkens? Heute gilt Geoffrey Hinton als Pate der künstlichen Intelligenz.

Als Student war Geoffrey Hinton ziemlich verloren. Er probierte Biologie aus, Kunstgeschichte, Philosophie, bis er schliesslich etwas fand, was ihn mehr als alles andere faszinierte: die mathematischen Grundlagen des Denkens.

«Ich wollte verstehen: Wie um alles in der Welt kann das Gehirn lernen, etwas zu tun? Das will ich wissen. Ich bin eigentlich gescheitert, aber das Scheitern hat uns ein paar nette Ingenieursleistungen gebracht», sagte Hinton im April 2024 in einem Interview. Diese «netten Ingenieursleistungen» sind die Grundlagen für heutige künstliche Intelligenz.

Nun hat Geoffrey Hinton den Nobelpreis für Physik für seine Leistungen bekommen, gemeinsam mit John Hopfield. Inzwischen kennt jedes Kind künstliche Intelligenz. Doch der Grossteil von Hintons Leben und Karriere hat sich in einer Zeit abgespielt, als seine Forschung eher belächelt wurde.

Lieber am Abend lange arbeiten statt ins Pub

Geoffrey Everest Hinton wurde 1947 in London in eine namhafte Familie geboren. Er heisst nicht wegen des Bergs mit zweitem Name Everest, sondern umgekehrt: Der Berg heisst wegen eines seiner Vorfahren Everest, des Landvermessers George Everest. Er war der Urururgrossonkel von Hinton.

Auch Hintons Ururgrossvater war berühmt: George Boole, der Mathematiker, der die grundlegenden Konzepte für binäre Logik erfunden hat und damit das digitale Zeitalter einläutete.

Hintons Vater war ein bekannter Insektenforscher und Fan Stalins. Auf Geoffrey lastete der Druck, Grosses zu leisten. Sein Erfolg kam aber erst lange nach dem Tod des Vaters.

Einem Reporter des «New Yorker», der ihn letzten Herbst besuchte, sagte er: «Ich habe mich oft gefragt, ob ich als Architekt glücklicher wäre.» Zur Wissenschaft habe er sich immer zwingen müssen. Wegen seiner Familie habe er erfolgreich sein müssen. «Es war immer Freude dabei, aber vor allem innere Unruhe.» Es sei eine enorme Erleichterung, es endlich zu etwas gebracht zu haben.

1978 promovierte Hinton in Edinburg. In seinem Doktorat beschäftigte er sich damit, wie man Sehen mathematisch modellieren kann. Dann wechselte Hinton in die USA, wo er an der renommierten Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh, Pennsylvania, forschte.

Hinton schätze den Ehrgeiz der Amerikaner. In England seien alle Mitarbeiter um 18 Uhr ins Pub gegangen, erzählt er in einem Interview. An der Carnegie-Mellon-Universität seien die Büros am Samstagabend um 21 Uhr voller Studenten gewesen: «Sie waren da, weil sie an der Zukunft arbeiteten. Sie glaubten daran, dass es den Verlauf der Computerwissenschaft verändern würde.»

Die Boltzmann-Maschine soll Lernen simulieren

Die meisten KI-Forscher glaubten damals, dass schlaue Computer durch eine Menge einprogrammierte Regeln entstehen würden. So funktioniert beispielsweise der Deep-Blue-Computer von IBM, welcher in den 1990ern zum ersten Mal den Schachweltmeister schlug.

Hinton gehörte zu einer damals kleinen Gruppe Forscher, die der Maschine nicht direkt Kompetenzen beibringen wollten, sondern das Lernen. Er war überzeugt, dass es mit den richtigen mathematischen Formeln möglich sein müsste, aus vielen Beispielen Konzepte abzuleiten, also zu lernen.

Für den ersten Durchbruch dabei hat er nun den Nobelpreis erhalten: die 1983 beschriebene Boltzmann-Maschine. Hinton hat die Boltzmann-Maschine nach einem österreichischen Physiker benannt, der mathematisch beschrieben hat, was das makroskopische Verhalten von Gasen mit dem Verhalten ihrer kleinsten Bestandteile zu tun hat. Hinton und ein Kollege nutzten seine Gleichungen und machten daraus eine Theorie des Lernens.

Es dürfte Hinton freuen, dass genau dieses Konzept nun prämiert wird. Denn obwohl spätere Weiterentwicklungen in der Praxis besser funktionieren, liebt er das Konzept der Boltzmann-Maschine bis heute mehr. Gegenüber einem Reporter des «New Yorker» sagte er letztes Jahr, wenn er Gott wäre, läge die Boltzmann-Maschine dem Lernen im Gehirn zugrunde. Durch Experimente stellte sich aber bald heraus, dass dem nicht so sein konnte.

Aus politischen Gründen brachte er KI-Forschung nach Kanada

Aus der Boltzmann-Maschine und ihren Nachfolgern wurden aber Methoden entwickelt, um künstliche neuronale Netze zu bauen, die bis heute die Grundlage für KI-Anwendungen von Gesichtserkennung bis Chat-GPT sind. Computersysteme der achtziger Jahre waren aber noch überfordert mit der Rechenpower, die solche Methoden brauchen.

Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis Computer leistungsstark genug waren, um mit neuronalen Netzen in praktischen Anwendungen Durchbrüche zu feiern, und aus Hinton einen Star machten.

Hinton, der das gute und schlechte Potenzial dieser Forschung schon früh erahnte, wollte sich nicht von Militärausgaben finanzieren lassen, was damals in den USA bei KI-Forschung der Fall war. Deshalb und weil seine damalige Frau Rosalind eine grosse Abneigung gegen Ronald Reagan hegte, verliessen die beiden 1987 die USA und zogen nach Toronto, Kanada. Die beiden adoptierten zwei Kinder aus Lateinamerika und lebten ein ruhiges Leben. Hinton war eine herausragende Figur, aber in einem wenig glamourösen Forschungsfeld.

Anfang der Neunziger erlitt Hinton die erste grosse Tragödie seines Lebens. Seine Frau Rosalind erkrankte an Krebs. Sie war Molekularbiologin, trotzdem war sie skeptisch gegenüber der Schulmedizin, zögerte eine Operation hinaus und entschied sich gegen eine Chemotherapie. Stattdessen gab sie viel Geld für homöopathische Behandlungen aus, unter anderem in der Schweiz. 1994 starb Rosalind. Er war damals 44, die beiden Kinder 5 und 3.

Spitzenforscher von Meta und Open AI haben bei ihm studiert

Als Forscher war er immer noch ein Aussenseiter. Allerdings einer, der es mit seinen nach Science-Fiction klingenden Forschungsprojekten schaffte, talentierten Nachwuchs anzuziehen. In den Neunzigern soll ein Professor seinen Studenten mit folgenden Worten davor gewarnt haben, in Hintons Forschungsgruppe zu wechseln: «Kluge Forscher, die da hingehen, beenden ihre Karriere.»

Aus heutiger Sicht eine absurde Fehleinschätzung: Studenten von Hinton wurden gemeinsam mit ihm mit dem Turing Award, also der höchsten Auszeichnung in der Informatik, prämiert. Einer, Yann LeCun, leitet heute die KI-Forschung von Meta, ein anderer, Yoshua Bengio, eine weltberühmte Forschungsgruppe in Montreal, ein dritter hat Open AI, die Firma hinter Chat-GPT, mitbegründet: Ilya Sutskever.

Mit ihm gelang Hinton 2012 ein Durchbruch in der Bilderkennung mit neuronalen Netzen. Das Jahr markiert den Zeitpunkt, ab dem Computer gut genug waren, um zu beweisen, wie gut künstliche neuronale Netze funktionierten.

Prompt kaufte Google das Startup von Hinton, Sutskever und einem zweiten Studenten ein und stellte die drei an. Hinton bekam 44 Millionen Dollar dafür und kaufte sich eine kleine Insel im Huronsee, einem der fünf grossen Seen zwischen den USA und Kanada.

Warnung vor übermächtiger künstlicher Intelligenz

Dorthin baute er ein Haus für sich und seine Familie. Einige Jahre nach Rosalinds Tod hatte er die Kunsthistorikerin Jaqueline Ford geheiratet, die sich auch mit den Kindern gut verstand. Die beiden freuten sich darauf, die Umgebung ihres neuen Zuhauses zu entdecken. Doch gerade, als alles perfekt zu laufen schien, folgte der nächste Schicksalsschlag: Jaqueline Ford hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sie starb im April 2018 an der Krankheit. Zwei Monate später bekam Hinton den Turing-Preis verliehen.

Im November 2022 löste Chat-GPT eine neue Welle an KI-Hype aus, nie wurde mehr über die Potenziale und Risiken dieser Technologie spekuliert. Hinton nimmt dabei immer wieder die Rolle des Warners ein.

2023 hat Hinton, der oft als «godfather», also Pate, der künstlichen Intelligenz (KI) bezeichnet wird, in der «New York Times» seinen Abgang bei Google verkündet. Dabei habe sein Alter eine Rolle gespielt. Doch er wolle in Zukunft auch freier über die Gefahren von KI sprechen, als er das als Angestellter von Google tun konnte.

Auch bei der Nobelpreisverleihung betonte er neben den grossen Potenzialen von KI seine Sorge darüber was passiert, wenn die Menschen dereinst mit Maschinen konfrontiert sind, die klüger sind als sie.

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