Donnerstag, Mai 15

Therapien während der Schwangerschaft sollen irreparablen Organschäden im Fötus vorbeugen. Die Amerikanerin Tippi MacKenzie, Spezialistin für Pränatalchirurgie, hat damit erste Erfolge erzielt.

Zwei Kinder hatte ein pakistanisches Ehepaar wegen eines seltenen Gendefekts wenige Monate nach der Geburt bereits verloren. Eine Schwangerschaft mit einem kranken Fötus wurde vorzeitig beendet. Dann der nächste Schock: Ende 2020 wurde bei einer Pränataluntersuchung der Gendefekt erneut bei einem Ungeborenen entdeckt. Doch diesmal sollte alles anders ablaufen. Dem Ehepaar wurde eine experimentelle Behandlung des ungeborenen Kindes angeboten, eine In-utero-Therapie.

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Der bei dem Fötus und seinen verstorbenen Geschwistern vorliegende Gendefekt tritt bei ungefähr einem von 52 000 Babys auf, in manchen Bevölkerungsgruppen kommt er gehäuft vor. Er verursacht ein Müllproblem in den Zellen. Denn wegen des kaputten Gens wird ein bestimmtes Protein nicht mehr produziert. Deshalb sammeln sich grosse, unverdaute Zuckermoleküle in den Zellen an. Das führt zu Schäden vor allem in den Muskeln und Nerven.

In der Regel fällt der Gendefekt in den ersten Monaten nach der Geburt auf, weil die Säuglinge sich wegen schwacher Muskeln kaum bewegen können oder Herzstörungen entwickeln. Heutzutage wird ihnen sofort nach der Diagnose das fehlende Protein per Infusion verabreicht. Doch bei vielen sind bereits während der Schwangerschaft irreparable Organschäden entstanden. Die betroffenen Kinder sterben deshalb trotzdem sehr früh.

Injektion direkt in die Nabelschnur

Die Ärztin und Spezialistin für chirurgische Eingriffe bei Ungeborenen Tippi MacKenzie von der University of California in San Francisco hatte daher schon vor einigen Jahren beschlossen, betroffene Kinder viel früher zu behandeln. «Ich wollte ein gesundes Protein als Ersatz während der Schwangerschaft verabreichen, damit diese fatalen Organschäden gar nicht erst entstehen», erzählt sie im Gespräch. Wenn ein Mittel zur Behandlung bei Neugeborenen zugelassen sei, dann sei es einen Versuch wert, es schon während der Schwangerschaft einzusetzen.

Damit das Ersatzprotein auch wirklich unverarbeitet vom mütterlichen Organismus beim Ungeborenen ankommt, wird es direkt in die Nabelschnur injiziert. MacKenzie und ihr Team erprobten und verfeinerten die Methode zuerst in diversen Tierstudien. Der kranke Fötus des pakistanischen Ehepaars war dann das erste Menschenkind, das im Uterus behandelt wurde. Mehrfach wurde das Eiweissmolekül ab der 24. Schwangerschaftswoche via Nabelschnur verabreicht.

Mittlerweile ist das Kind fast vier Jahre alt und gesund. Für die Eltern ist die Rettung ihres Kindes ein Wunder. Allerdings muss es sein Leben lang weiter das fehlende Protein per Infusion bekommen, damit die zellulären Müllhaufen nicht wieder entstehen können.

Die Liste der therapierbaren Krankheiten wächst

«Wir haben mittlerweile bei sechs Föten eine solche In-utero-Therapie angewandt», erzählt MacKenzie. Drei hatten denselben Proteinmangel wie das Kind des pakistanischen Ehepaars. Die anderen wiesen zwar Defekte in anderen Genen auf. Doch das Ergebnis war gleich: Ein wichtiges Eiweiss fehlte, unverdaute Moleküle bildeten giftigen Abfall.

Wissenschafter wollen Ungeborenen nicht nur fehlende Proteine verabreichen. Künftig soll auch die deutlich häufiger vorkommende zystische Fibrose, bei der wegen eines Gendefekts sehr zäher Schleim die Atemwege sowie manche Verdauungsorgane blockiert, schon vor der Geburt behandelt werden.

Kürzlich hat eine Arbeitsgruppe in Memphis von einem Kind berichtet, dessen Mutter während der Schwangerschaft Tabletten gegen die Erkrankung SMA erhielt. Hier sterben wegen eines Gendefekts die Nervenzellen, die den Muskeln die Signale des Gehirns übermitteln sollen. Das führt zu Muskelschwund mit Bewegungsproblemen bis hin zu Atemlähmungen. Das Medikament aktiviert ein anderes Gen und sorgt somit dafür, dass zumindest eine gewisse Menge der benötigten Nervenzellen erhalten bleibt.

Das geschah zwar bei dem Baby in Memphis. Ganz gesund ist es trotzdem nicht. Laut den Ärzten weist es leichte Sehprobleme und gewisse Entwicklungsverzögerungen auf. Diese haben sich bis zum Alter von zweieinhalb Jahren nicht gebessert. Immerhin: Die typischen SMA-Symptome, die zu einem frühen Tod führen, sind bis anhin nicht aufgetreten.

Sowohl das Team aus Memphis als auch jenes in Kalifornien halten die Ergebnisse für ermutigend genug, um weitere In-utero-Therapien durchzuführen. Der Fall zeige aber auch, wie experimentell solche Behandlungen seien, betont MacKenzie. «Wir wissen noch nicht genau, wie viel eines Proteins oder eines Medikaments wir zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft und wie oft verabreichen müssen, um sämtliche Schäden von vorneherein zu verhindern.»

Eine einfache Angelegenheit ist solch eine In-utero-Therapie ohnehin nicht. Zum einen besteht immer das Risiko einer Infektion oder einer Frühgeburt. Zum anderen ist eine Injektion in die Nabelschnur technisch sehr diffizil. MacKenzies Team testet daher derzeit in Tierstudien aus, ob Proteine oder andere Mittel auch dann effizient sind, wenn sie direkt in das Fruchtwasser gespritzt werden.

Ist der nächste Schritt eine vorgeburtliche Gentherapie?

Aber die Ärztin aus Kalifornien treibt mittlerweile schon die nächste kühne Idee um. «Medikamente während der Schwangerschaft geben, das ist keine Heilung», sagt sie. «Die Kinder müssen diese trotzdem lebenslang nehmen. Denn ihre Gene bleiben kaputt.»

Sie möchte daher eine In-utero-Gentherapie entwickeln. Dabei soll das defekte Gen schon während der Schwangerschaft repariert oder durch eine intakte Kopie ersetzt werden.

MacKenzie ist jetzt 54 Jahre alt. Ob sie noch die erste Gentherapie an einem Ungeborenen erleben oder gar selber durchführen wird, das weiss sie nicht. Sie hat bereits erste Tierversuche gestartet. Jüngst musste sie allerdings einen Rückschlag hinnehmen. Wurde bei Schafföten während der Trächtigkeit eine Genreparatur mithilfe einer speziellen Genschere durchgeführt, so schnipselte diese manchmal auch in den Keimzellen herum. Somit tragen auch die Nachkommen dieser Schafe die Spuren der Gentherapie in sich. «Das muss bei Menschen komplett verhindert werden», betont die Wissenschafterin.

Wie genau sie das anstellen will, dazu kann sie nichts weiter sagen. Denn mitten im Satz klingelt ihr Piepser. «Ich muss zu einer In-utero-Behandlung, das Ungeborene hat denselben Gendefekt wie das Kind des pakistanischen Ehepaars», sagt sie und entschuldigt sich lächelnd. Sie ist zuversichtlich, dass ihr Team auch in diesem Fall ein Wunder für die Eltern möglich machen wird.

Ein Artikel aus der «»

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