Auf den Strassen Istanbuls spielen sich am Mittwoch dramatische Szenen ab. 13 Sekunden lang dauert das stärkste Beben, weitere 50 Mal zittert die Erde. Aber was, wenn das Hauptbeben erst noch kommt?
(dpa) Das schwere Beben der Stärke 6,2 und die mehr als 50 teils starken Nachbeben in Istanbul halten die Menschen der Millionenmetropole in Angst. Mehr als 150 Personen wurden laut Angaben der Behörden verletzt. Laut Innenministerium sind keine Toten zu beklagen, Wohnhäuser sind nicht eingestürzt. Experten warnen jedoch, dass ein grosses Beben der Stärke 7 und mehr noch bevorstehen könnte.
Menschen sprangen in Panik aus den Fenstern
Auf den Strassen der Stadt mit ihren 16 Millionen Einwohnern spielten sich am Mittag nach dem rund 13 Sekunden andauernden stärksten Erdstoss dramatische Szenen ab. Viele Menschen stürzten in Angst aus den Häusern, viele verletzten sich, als sie in Panik aus den Fenstern sprangen. Familien eilten zu Spitälern, um ihre kranken Angehörigen von dort abzuholen und in Sicherheit zu bringen, wie Bilder des Staatssenders TRT zeigten. Zum Teil waren Telefonnetze und Internet gestört.
Auf den Autobahnen bildeten sich lange Staus, Parks und Strassen füllten sich mit Menschen, die lieber unter freiem Himmel ausharren wollten. Auf einem Video der Nachrichtenagentur DHA war eine Tierärztin zu sehen, die eine Katze im Kofferraum eines Autos operierte, weil sie zuvor während des Eingriffs vom Beben überrascht worden war.
Zunächst keine Berichte über Schäden
Laut dem Istanbuler Gouverneursamt gab es keine eingestürzten Wohnhäuser; lediglich ein leerstehendes Haus im Bezirk Fatih soll zusammengebrochen sein. Die Bürger wurden gebeten, Ruhe zu bewahren und sich beschädigten Gebäuden nicht zu nähern. Der Minister für Verkehr und Infrastruktur, Abdulkadir Uraloğlu, schrieb auf der Plattform X, es seien bei einer ersten Bestandsaufnahme keine Schäden an Strassen, Flughäfen, Zügen und U-Bahnen festgestellt worden.
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein weiteres starkes Beben folge, sagte der Geologe Okan Tüysüz dem Sender NTV. Das Hauptbeben werde noch kommen, schrieb Erdbebenforscher Naci Görür auf der Plattform X. Im Marmarameer verläuft eine tektonische Plattengrenze. Die aktuellen Erschütterungen erhöhten die Spannungen dort zusätzlich, so Görür.
Schwerstes Beben seit 25 Jahren
Laut dem Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) gehe es um das schwerste Beben in der Region seit 25 Jahren. «Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien: Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab, oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein grösseres Erdbeben in der Region», hiess es in der GFZ-Mitteilung.
Experten gehen seit langem davon aus, dass ein Beben rund um die Stärke 7 in Istanbul überfällig ist. Laut türkischem Städtebauminister Murat Kurum gelten 1,5 Millionen Wohnungen und Gewerbeeinheiten als gefährdet.
Imamoglu: Kann an diesem schweren Tag nicht bei euch sein
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sicherte den Bürgern zu, der Katastrophendienst Afad, das Gesundheitsministerium und alle weiteren staatlichen Institutionen seien in voller Alarmbereitschaft. «Wir beobachten die Situation genau», teilte er auf der Plattform X mit.
Auch der inhaftierte türkische Oppositionsführer und Ex-Bürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoglu, meldete sich auf X zu Wort. An die Istanbuler gerichtet äusserte er sein Bedauern darüber, «an diesem schweren Tag nicht bei euch sein zu können». Er appellierte an Einheit, Zusammenhalt und Solidarität im Kampf gegen die Naturkatastrophe.
Letzte Katastrophe vor zwei Jahren
Die Türkei hat leidvolle Erfahrungen mit Erdbeben – Anfang 2023 kamen bei zwei verheerenden Beben der Stärke 7,7 und 7,6 in der Südosttürkei und dem Norden Syriens Zehntausende Menschen ums Leben, allein in der Türkei gab es 53 000 Opfer. Millionen Menschen wurden obdachlos.
Das aktuelle Erdbeben war auch in Teilen Griechenlands und Bulgariens deutlich zu spüren. Genau wie türkische Seismologen befürchten auch griechische Wissenschafter, dass ein grosses Hauptbeben noch ausstehen könnte.