Der Krieg in Syrien hat die türkische Politik der letzten Jahre ganz entscheidend geprägt. Mit dem Sturz Asads erreicht Ankara ein Ziel, an das es selbst nicht mehr glaubte. Dennoch bleiben viele Ungewissheiten.
Wer aus einer Position der Stärke spricht, kommt auch ohne laute Töne aus. Syrien sei an einem Punkt angelangt, an dem das syrische Volk die Zukunft seines Landes selber gestalten könne, sagte der türkische Aussenminister Hakan Fidan am Sonntag in Doha, nachdem die Nachricht vom Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Asad die Runde gemacht hatte.
Alle Regimegegner sollten zusammenarbeiten, um eine friedliche Übergangsphase sicherzustellen. Das Wichtigste sei es, weiteres Blutvergiessen zu verhindern.
Gute Ausgangslage
Dass Ankara in diesem Prozess ein gewichtiges Wort mitzusprechen hat, brauchte der türkische Chefdiplomat nicht zu sagen. Es versteht sich von selbst. Kein anderer Staat ist besser positioniert, um von den dramatischen Umwälzungen in Syrien zu profitieren, als die Türkei.
Es ist zwar weiterhin unklar, inwiefern Ankara den Vorstoss der Rebellen tatsächlich unterstützte. Laut mehreren Berichten hat die Türkei die Offensive lange zurückgehalten. Und als Ankara am Ende grünes Licht gab, hatte man vermutlich nur eine beschränkte Operation im Norden des Landes im Sinn.
Denn das langfristige Ziel war weiterhin eine Aussöhnung mit Asad, um unter anderem eine Rückkehr der sich in der Türkei aufhaltenden syrischen Flüchtlinge auszuhandeln. Das Regime in Damaskus habe nie verstanden, welchen Wert die ausgestreckte Hand der Türkei dargestellt habe, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag.
Direkte Kanäle zu den Rebellen
Doch das spielt nun keine Rolle mehr. Wie auch immer die künftige Ordnung in Syrien aussieht, Kräfte mit langjährigen Verbindungen nach Ankara werden eine zentrale Rolle spielen. Russland und Iran haben demgegenüber mit Asad ihren Verbündeten im Land verloren, und hinter der Zukunft des amerikanischen Engagements in Syrien stehen grosse Fragezeichen.
Der neue starke Mann im Land, Abu Mohammed al-Julani, und das von ihm befehligte islamistische Rebellenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) waren während Jahren stark von der Türkei abhängig. Die einzige Versorgungsroute in ihre Hochburg Idlib führte über türkisches Territorium. Seither bestehen enge Verbindungen zu den türkischen Sicherheitsdiensten, obwohl die HTS auch von Ankara als Terrororganisation geführt wird.
Die Syrische Nationale Armee, die zweite starke Kraft im Nordwesten des Landes, wird sogar direkt von Ankara finanziert. Kein anderer Staat verfügt über diese Kanäle zu den syrischen Rebellen. Dass nun offenbar auch in westlichen Hauptstädten darüber nachgedacht wird, Julani zu rehabilitieren, ändert daran nichts.
Neues Kapitel der türkischen Regionalpolitik
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Erfolg islamistischer Aufständischer nun die Stellung der Türkei im Nahen Osten stärken dürfte. Schliesslich war die Unterstützung für die Kräfte des politischen Islam im sogenannten Arabischen Frühling der Hauptgrund dafür gewesen, dass die Türkei in ihrer östlichen und südlichen Nachbarschaft während eines Jahrzehnts weitgehend isoliert war.
Erst in den letzten Jahren war es Ankara gelungen, die Beziehungen in der Region wieder zu reparieren: mit den Emiraten, mit Ägypten und, kurzzeitig, sogar mit Israel. Die Aussöhnung mit Asad wäre gewissermassen die Krönung dieser Normalisierungspolitik gewesen. Verfolgt wurde diese von Erdogan stets nur zähneknirschend, da sie auch ein implizites Eingeständnis des Scheiterns seiner ideologisch grundierten Aussenpolitik bedeutete.
Mit dem Krieg in Gaza, in dem der türkische Präsident als einer der schärfsten Kritiker der israelischen Regierung auftritt, erfolgte eine erste Kurskorrektur. Der Umsturz in Syrien muss nun erst recht eine Genugtuung für den türkischen Präsidenten sein – auch wenn er dieses Ziel eigentlich schon aufgegeben hat.
Ordnungsmacht mit «emotionaler Geografie»
Erdogan strebt für sein Land die Rolle eines regionalen Machtpols an, der in seiner Nachbarschaft als Ordnungsmacht auftritt. Nirgends ist das deutlicher als in Syrien.
Ankara investiert in die harte Währung der Macht, allen voran in die Rüstungspolitik. Aber auch Soft Power kommt zum Einsatz, etwa wenn sich Erdogan als Fürsprecher der islamischen Welt inszeniert oder mit der schönen Wortschöpfung der «emotionalen Geografie» vom besonderen Interesse der Türkei an jenen Staaten spricht, mit denen man eine gemeinsame Vergangenheit teilt. Dass sich daraus nicht automatisch eine Verbundenheit mit Ankara ableitet, wird freilich ausgeblendet.
Eine Herausforderung für Ankara wird in Syrien auch sein, die eigene Interessenpolitik nicht allzu offensichtlich zu betreiben. Die Türkei wird im Nachbarland stark mit der osmanischen Herrschaft assoziiert. Das ist kein Vorteil.
Syrien hat die türkische Aussenpolitik geprägt
Die Umwälzungen in Syrien verschieben das Machtgefüge nicht nur auf lokaler Ebene. Russland etwa verliert einen wichtigen Hebel gegenüber der Türkei. Die beiden Staaten stehen in einem komplizierten Abhängigkeitsverhältnis, das es ihnen trotz örtlich diametral entgegengesetzten Interessen erlaubt, an anderer Stelle eng zusammenzuarbeiten.
Das wird auch weiterhin so bleiben, doch mit neuen Kräfteverhältnissen. Die Türkei muss in der Ukraine oder im Kaukasus künftig nicht mehr auf das russische Drohpotenzial in Syrien Rücksicht nehmen. Vielmehr ist Moskau für den Fortbestand seiner Militärbasen im östlichen Mittelmeer auch auf Ankaras Wohlwollen angewiesen. Das verändert die Dynamik durchaus.
Syrien spielt auch im schwierigen Verhältnis zu den USA eine wichtige Rolle. Die Verstimmungen zwischen Washington und Ankara der letzten Jahre haben viel – wenn auch nicht ausschliesslich – mit den unterschiedlichen Interessen in Syrien zu tun.
Von der amerikanischen Unterstützung der syrischen Kurden im Kampf gegen den IS lässt sich über den türkischen Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems und den Rauswurf aus dem Konsortium zum Bau des Kampfflugzeugs F-35 bis hin zum türkischen Erpressungsmanöver beim schwedischen Nato-Beitritt ein grosser spannungsgeladener Bogen schlagen.
Wenn der künftige amerikanische Präsident Trump schreibt, die USA sollten sich aus der Neuordnung des Landes heraushalten, wird das in Ankara deshalb kaum auf Widerspruch stossen.
Wirtschaftliche Chancen
Zu den politischen Dividenden des syrischen Umsturzes kommen wirtschaftliche Perspektiven. Die türkische Bauindustrie, die gute Verbindungen zu Präsident Erdogan pflegt, ist prädestiniert für eine Schlüsselrolle im Wiederaufbau des Landes.
Die Mittel dürften hierfür auch aus dem Westen kommen, etwa im Rahmen von Verhandlungen über Migrationsfragen. Bereits vor einigen Jahren sprach Deutschland mehrere Millionen Euro für den Bau von Häusern für zurückkehrende Flüchtlinge in türkisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien.
Auch der Handel zwischen den beiden Ländern dürfte stark zulegen. Die Verbindungen sind schliesslich eng, vor allem wegen der grossen syrischen Diaspora in der Türkei.
Und natürlich bietet Asads Fall den mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlingen im Land erstmals eine ernsthafte Rückkehrperspektive. Das Flüchtlingsthema ist seit Jahren eines der grössten Streitfragen in der Türkei.
Was wird aus den Kurden?
Trotz diesen verheissungsvollen Aussichten harrt man in Ankara nicht einfach entspannt der weiteren Entwicklungen in Syrien. Ein neuerliches Aufflackern der Gewalt im Bürgerkriegsland würde statt einer Rückkehr der Syrer aus der Türkei zu einer neuen Flüchtlingswelle führen. Die Gefahr hierfür ist real.
Das Rebellenbündnis HTS scheint die Machtübernahme zwar umsichtig vorbereitet zu haben und verspricht dabei explizit, auch auf die Befindlichkeiten religiöser und ethnischer Minderheiten im Land Rücksicht zu nehmen. Wie eine Nachkriegsordnung für Syrien dereinst aussehen wird, ist aber noch völlig unklar.
Vor allem eine für die Türkei zentrale Frage ist weiterhin ungelöst: die Zukunft der kurdischen Autonomieregion im Nordosten des Landes. Deren Zerschlagung oder zumindest die Vertreibung der kurdisch dominierten Volksverteidigungseinheiten aus dem Grenzgebiet zur Türkei war neben der Flüchtlingsfrage immer eine Priorität der türkischen Syrien-Politik.
Dieses Ziel verfolgt man auch weiterhin. Die türkisch unterstützte Nationale Armee hat seit Beginn der Rebellenoffensive die kurdischen Truppen aus zwei Gebieten im Umland von Aleppo vertrieben. Nun hat sie Manbij ins Visier genommen, das letzte von Kurden kontrollierte Gebiet östlich des Euphrat. Wie sich das mit dem Appell zu einem friedlichen Übergang und der Einbindung aller Gruppierungen des Landes vereinbaren lässt, weiss man vermutlich nicht einmal in Ankara.

