Dienstag, November 5

Nach Signalen der Entspannung hat die türkische Regierung mehrere kurdische Bürgermeister wegen angeblichen Terrorverdachts abgesetzt. Damit zeigt sie, dass eine Rückkehr zum repressiven Kurs der vergangenen Jahre jederzeit möglich ist.

Die Hand, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Kurden im Land entgegenstreckt, ist auch eine Faust. Am Montag hat die Regierung im Südosten der Türkei, dem Kernland der kurdischen Minderheit, drei Bürgermeister der prokurdischen DEM-Partei wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen abgesetzt und durch Statthalter ersetzt.

Unter den entlassenen Lokalpolitikern befindet sich auch Ahmet Türk. Der 82-jährige Politiker ist Bürgermeister der Grossregion Mardin und ein Doyen der kurdischen Bewegung des Landes. Türk wurde in seiner langen Karriere schon dreimal ein Posten entzogen, für den er gewählt worden war.

Erinnerung an 2019

Am Freitag war bereits der Bürgermeister von Esenyurt, dem grössten Stadtteil Istanbuls, unter demselben Vorwand abgesetzt worden. Ahmet Özer gehört der kemalistischen Oppositionspartei CHP an, ist aber ebenfalls Kurde und war bei den Lokalwahlen im März mit kurdischer Unterstützung gewählt worden. Esenyurt hat etwa eine Million Einwohner und ist ein Zentrum des kurdischen Lebens in der Bosporusmetropole.

Die Ereignisse wecken Erinnerungen an die Lokalwahlen von 2019. Nach dem Urnengang wurden innert einiger Monate alle Vertreter der damaligen HDP, die in grösseren Städten die Wahl für sich entschieden hatten, durch Regierungsvertreter ersetzt. Später kam ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische Partei hinzu, das zur Neugründung unter dem Namen DEM führte.

Am Montag fanden in mehreren Städten Protestaktionen gegen die Absetzung der Bürgermeister statt. Dabei wurden Dutzende von Personen festgenommen. Die DEM-Partei sprach in einer Pressemitteilung von einem «Putsch». Die Regierung eigne sich gewaltsam Macht an Orten an, wo sie an der Urne nicht gewinnen könne.

Spiel mit den Muskeln

Die Regierung erhöht zu einer Zeit den Druck, in der eigentlich über eine Annäherung an die Kurden gesprochen wird. Anfang Oktober hatte Erdogans ultranationalistischer Verbündeter Devlet Bahceli der DEM-Fraktion im Parlament im wörtlichen Sinne die Hand ausgestreckt und erklärt, in Zeiten der Bedrohung müssten alle politischen Kräfte des Landes zusammenspannen. Tatsächlich begünstigt die geopolitische Grosswetterlage im Nahen Osten eine Annäherung zwischen Kurden und der Regierung.

Trotzdem war die Geste angesichts der minderheitenfeindlichen Politik von Bahcelis MHP höchst ungewöhnlich. Noch höhere Wellen schlug, dass Bahceli wenig später vorschlug, den inhaftierten Gründer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, im Parlament sprechen zu lassen, damit dieser dort die Auflösung der Terrororganisation und das Ende des seit vier Jahrzehnten andauernden bewaffneten Kampfes gegen die Staatsmacht ausrufe.

Dann verübte die PKK einen Anschlag auf ein staatliches Rüstungsunternehmen, worauf die Regierung mit einer Verstärkung ihrer Angriffe auf kurdische Positionen in Syrien und dem Irak reagierte. Die meisten Beobachter sahen darin aber keine grundsätzliche Absage an den angestossenen Prozess, sondern eher ein Spiel mit den Muskeln.

Bahceli wiederholt sein Angebot

Danach sieht es auch bei den jüngsten Ereignissen aus. Neben dem Zuckerbrot, an das Erdogans Verbündeter Bahceli am Dienstag erinnerte, als er sein kontroverses Angebot an den inhaftierten PKK-Führer Öcalan wiederholte, setzt die Regierung gegenüber den Kurden auch die Peitsche ein.

Das Vorgehen gegen die Lokalpolitiker ist eine Erinnerung daran, dass eine Rückkehr zur repressiven Politik der vergangenen Jahre jederzeit möglich ist. Dabei dürfte das Datum kein Zufall sein. Am 4. November 2016 wurde eine grosse Zahl von Mitgliedern der damaligen HDP festgenommen, unter anderem die beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag. Beide sind noch immer in Haft.

Die Massenverhaftung war ein einschneidendes Ereignis und steht bis heute für den dramatischen Kurswechsel in der Kurdenpolitik. Bis 2015 hatte sich Erdogan um die Gunst der Minderheit bemüht, mit deren Hilfe er sich nach dem Verlust der absoluten Mehrheit seiner AK-Partei die Macht sichern wollte.

Kurdenfrage schürt Konflikte in der Opposition

Um politische Mehrheiten dürfte es auch dieses Mal gehen. Erdogan strebt eine Totalrevision der Verfassung an, womit er vermutlich auch die geltende Amtszeitbeschränkung als Präsident umgehen will. Sein Verbündeter Bahceli sprach sich am Dienstag offen für eine weitere Kandidatur Erdogans aus.

Für die Verfassungsänderung ist der Präsident auf Stimmen von ausserhalb des eigenen Lagers angewiesen. Sein Blick fällt dabei auch deshalb auf die Kurden, weil unter diesen eine gewisse Ernüchterung über die Zusammenarbeit mit der kemalistischen Opposition herrscht.

Die Wiederbelebung der Kurdenfrage bringt für Erdogan aber noch einen weiteren machtpolitischen Nutzen. Das Thema schürt innerhalb der grössten Oppositionspartei, CHP, Konflikte und droht einen Keil zwischen ihre beiden wichtigsten Politiker zu treiben.

Während der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu einen inklusiven, minderheitenfreundlichen Kurs verfolgt, kommt sein Amtskollege in Ankara, Mansur Yavas, aus dem nationalistischen Milieu, wo er auch ausserhalb der eigenen Partei viele Sympathisanten hat. Dies prägt den Blick auf die Kurdenfrage und den Umgang mit den gegenwärtigen Ereignissen.

Laut den jüngsten Umfragen würden beide Politiker im Direktvergleich Erdogan schlagen. Grabenkämpfe im eigenen Lager und ein Streit über mögliche Allianzpartner werden sie aber unweigerlich schwächen.

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