Selahattin Demirtas und Dutzende seiner Mitstreiter werden im sogenannten Kobane-Prozess zu langen Haftstrafen verurteilt. Die türkische Regierung behandelt kurdische Oppositionspolitiker weiterhin wie Staatsfeinde.
In der Türkei macht seit einigen Wochen das Schlagwort der «Aufweichung» die Runde. Nach der präzedenzlosen Niederlage seiner AK-Partei bei den Lokalwahlen Ende März hat Präsident Recep Tayyip Erdogan Signale ausgesendet, die Hoffnung auf eine Korrektur des autoritären, polarisierenden Kurses der letzten Jahre aufkeimen liessen.
Zum ersten Mal seit Jahren traf sich Erdogan mit dem Chef der grössten Oppositionspartei zu einem Gespräch unter vier Augen. Im Vorfeld sagte der türkische Präsident, es seit Zeit für eine «Normalisierung» des politischen Lebens. Beachtung fand auch die Forderung eines regierungsnahen Journalisten, den Kulturmäzen Osman Kavala, einen der berühmtesten politischen Häftlinge des Landes, freizulassen.
Erdogan ist politisch geschwächt und sucht neue Verbündete. Und zur Überwindung der Wirtschaftskrise braucht er Investoren aus dem Ausland, vorzugsweise dem Westen. Ein weniger repressiver Kurs wäre bei beidem behilflich.
Mehr als 40 Jahre für Demirtas
Die Hoffnung, dass auch der kurdischen Opposition wieder mehr Raum zugestanden werden könnte, hat ein Gericht nun aber brutal zerschlagen. Im sogenannten Kobane-Prozess haben die Richter am Donnerstag 36 Urteile gesprochen. 12 Personen wurden freigesprochen, doch 24 Angeklagte erhielten zum Teil sehr lange Haftstrafen. Bei 72 weiteren Personen steht das Urteil noch aus.
Zu den Verurteilten zählt Selahattin Demirtas, der bekannteste kurdische Politiker der Türkei. Der frühere Co-Vorsitzende der HDP, wie die grösste prokurdische Partei früher hiess, muss für 42 Jahre und 6 Monate ins Gefängnis. Demirtas sitzt bereits seit 2016 in Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betrachtet ihn als politischen Häftling und fordert seit Jahren seine Freilassung.
Figen Yüksekdag, die bis zu ihrer Inhaftierung vor acht Jahren zusammen mit Demirtas die HDP führte, wurde zu 32 Jahren und 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Bürgermeister der südosttürkischen Stadt Mardin Ahmet Türk, der bei den Lokalwahlen im März wiedergewählt worden war, erhielt 10 Jahre. Erneut wird somit ein gewählter Politiker auf dem Gerichtsweg aus dem Amt entfernt.
Im April hatte die Regierung den kurz zuvor neugewählten Bürgermeister von Van absetzen wollen. Grosse Strassenproteste zwangen die Regierung allerdings zum Einlenken. Nach den vorherigen Lokalwahlen 2019 waren innert zweier Jahre alle demokratisch gewählten HDP-Bürgermeister der grösseren Städte abgesetzt und durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt worden.
Der Co-Vorsitzende der HDP-Nachfolgepartei DEM, Tuncer Bakirhan, bezeichnete das Urteil vom Donnerstag als weiteren Versuch, die Kurden aus der Politik auszuschliessen. Auch der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der oppositionellen CHP kritisierte den Gerichtsbeschluss als politisch motiviert.
Wendepunkt im Syrien-Krieg
Im Kobane-Prozess stehen insgesamt 108 Mitglieder der HDP vor Gericht. Dabei geht es um die Proteste im Herbst 2014, die in vielen kurdisch geprägten Städten der Türkei gegen die dramatische Lage in der syrischen Stadt Kobane stattfanden. Die unmittelbar an der Grenze zur Türkei gelegene und mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt wurde ab September 2014 vom Islamischen Staat (IS) belagert. Dies löste grosse Flüchtlingsströme in die Türkei aus.
HDP-Politiker warfen der türkischen Regierung damals vor, nicht genug zum Schutz Kobanes zu tun und auf einen Sieg der Jihadisten zu hoffen. Tatsächlich betrachtete Ankara die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die mit amerikanischer Luftunterstützung Kobane verteidigten, als Hauptfeind in Syrien. Die YPG hat enge Kontakte zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die in der Türkei wie auch in der EU und den USA als Terrororganisation verboten ist.
Insgesamt kamen an den Protesten bei Zusammenstössen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften mindestens 37 Personen ums Leben, mehrheitlich HDP-Mitglieder. Im Prozess geht es vordergründig um die Verantwortung für diese Todesfälle und um Aufrufe der kurdischen Angeklagten, die von der Staatsanwaltschaft als Unterstützung für die PKK und somit für den kurdischen Separatismus dargestellt werden.
Einflussreiche Ultranationalisten
Die Bedeutung des Prozesses geht aber über diese Fragen hinaus. Die Debatte um Kobane stand 2014 für die neuerliche Verschärfung des Kurses der Regierung in der Kurdenfrage, zu der innenpolitische Weichenstellungen, aber auch die Lage in Syrien beigetragen hatten. Zum Zeitpunkt der Proteste stand der 2013 eingeleitete Friedensprozess der türkischen Regierung mit der PKK bereits unter wachsendem Druck. Im Sommer 2015 brach er endgültig zusammen.
Nachdem Erdogans AK-Partei bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte, wandte er sich auf der Suche nach neuen Partnern der ultranationalistischen MHP zu. Die Rechtsaussenpartei, zu deren Umfeld auch die berüchtigten Grauen Wölfe gehören, vertritt eine kompromisslose Linie gegenüber der kurdischen Minderheit.
Die MHP hat seither als Mehrheitsbeschafferin, nicht zuletzt beim umstrittenen Referendum über den Wechsel zum Präsidialsystem im April 2017, grossen Einfluss auf die türkische Regierung gewonnen. Dem MHP-Chef Devlet Bahceli wird beim weiterhin laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP, das zu deren Neugründung under dem Namen DEM führte, eine wichtige Rolle zugeschrieben.
Keine Anzeichen für eine «weichere» Politik
Die MHP hat bei den jüngsten Kommunalwahlen ebenfalls an Unterstützung eingebüsst. Dies und sich verstärkende Anzeichen eines Machtkampfs innerhalb des Regierungslagers tragen zu Debatten über eine «Aufweichung» oder «Normalisierung» der Politik in der Türkei bei.
Mehr als Spekulationen sind das aber zurzeit nicht, wie das eindeutig politisch motivierte Urteil vom Donnerstag deutlich macht. An den Schaltstellen der Macht verfügen die Befürworter einer repressiven Politik weiterhin über entscheidenden Einfluss.

