Samstag, November 23

Lange wurde in der Schweiz psychische Gewalt an Kindern und deren Auswirkungen kaum thematisiert. Eine Kampagne will das ändern. Auch auf rechtlicher Ebene tut sich etwas.

Jedes fünfte Kind in der Schweiz erfährt regelmässig psychische Gewalt. Das zeigt eine von Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage der Universität Freiburg. Um auf die Auswirkungen psychischer Gewalt auf Kinder aufmerksam zu machen, hat Kinderschutz Schweiz am Montag eine Kampagne lanciert.

Psychische Gewalt ist oft weniger greifbar als körperliche Gewalt. Dennoch kann auch psychische Gewalt lebenslange Auswirkungen haben. Kinder, die regelmässig davon betroffen sind, haben laut Kinderschutz Schweiz ein stark erhöhtes Risiko für Depressionen, Lernstörungen, aggressives und gewalttätiges Verhalten sowie für Bindungsstörungen.

Regula Bernhard Hug ist Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz. «Psychische Gewalt fängt dort an, wo man einem Kind absichtlich mit Worten weh tut oder Angst macht», sagt sie im Gespräch. Ein Beispiel sei etwa, wenn man mit einem Kind schimpfe und dabei die Persönlichkeit des Kindes angreife. Ihm etwa sagt: «Du bist zu dumm.» Oder man weise das Kind ab, obwohl das Kind gerade Nähe brauche. «Schlimm ist vor allem, wenn solches Verhalten regelmässig vorkommt, also etwa einmal im Monat», sagt Bernhard Hug.

Stress oft ein Grund für psychische Gewalt

Psychische Gewalt entsteht laut Bernhard Hug oft in Stresssituationen. Zum Beispiel, wenn die Eltern gesundheitlich angeschlagen sind oder sie Probleme bei der Arbeit haben. «Dann eskaliert die Situation zu Hause, und man sagt etwas, das man nicht möchte», sagt Bernhard Hug. Ein anderer Grund seien negative Konfliktmuster, die Eltern bereits in der Kindheit erlernt hätten.

Betroffenen Eltern rät Bernhard Hug, eine Strategie für Stresssituationen zu entwickeln. Das Ziel dabei ist, ein bis zwei Sekunden innezuhalten und Abstand zu gewinnen, bevor es zur Eskalation kommt. Mögliche Ideen dafür sind, die Hände zu waschen oder einen Spaziergang zu machen. Für betroffene Eltern bietet Kinderschutz Schweiz auch Kurse und Betreuungsangebote zur Unterstützung an.

Die Umfrage der Universität Freiburg zeigt, dass rund 30 Prozent der Eltern ihrem Kind mit Worten weh tun oder es heftig beschimpfen. Zirka ein Viertel der Befragten droht dem Kind mit Schlägen. Ungefähr jeder fünfte Elternteil droht dem Kind, wegzugehen und es allein zu lassen. Liebesentzug, also sagen oder zeigen, dass man das Kind nicht mehr gern hat, wurde von zirka 15 Prozent der befragten Eltern praktiziert. Regelmässig kommt das obengenannte Verhalten bei 5 bis 7 Prozent der Befragten Eltern vor.

20 Prozent der befragten Eltern geben weiter an, ihr Kind in Situationen abgewiesen zu haben, in denen es Nähe zum Elternteil gesucht habe. Rund jedem zehnten Kind wurde schon einmal verboten, zu sprechen oder zu weinen, oder es wurde vor anderen blossgestellt. Rund ein Drittel der Kinder war zudem laut Einschätzung der Befragten bereits Zeuge von psychischer Gewalt in der Partnerschaft.

Bei der Studie befragt wurden 1264 Elternteile, davon 618 Mütter und 646 Väter, mit Kindern im Alter von 1 bis 15 Jahre aus allen Sprachregionen. Die Erhebung wurde im Juni 2024 durchgeführt.

Zunahme nach der Corona-Zeit

Frühere Erhebungen zeigen, dass immer mehr Eltern angeben, ihre Kinder nie mit psychischer Gewalt zu bestrafen. Zurückgegangen ist auch der Anteil der Eltern, die selten psychische Gewalt anwenden. Der Anteil derjenigen Eltern, die ihren Kindern gegenüber regelmässig psychische Gewalt zeigen, hat laut der Befragung jüngst wieder zugenommen.

Das ist laut Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz auch einer der Gründe, warum der Fokus der Kampagne auf psychische Gewalt gelegt wurde. «Obwohl wir uns natürlich freuen, dass immer mehr Eltern ihre Kinder gewaltfrei erziehen, haben die regelmässigen Fälle von psychischer Gewalt leider seit Corona wieder zugenommen», sagt sie.

Ein weiterer Grund sei, dass psychische Gewalt und deren Auswirkungen bisher wenig beleuchtet worden seien. «Auch von uns wurde das Thema stiefmütterlich behandelt», sagt Bernhard Hug. Dabei seien die Folgen für Kinder ähnlich schwer wie bei körperlicher Gewalt.

Gesetzesänderung sorgt für Signal

Dass das Thema aktuell ist, zeigen auch Zahlen der Fachgruppe Kinderschutz der Schweizer Kinderkliniken. So wurden im vergangenen Jahr 2097 Kinder wegen Misshandlungen in Kinderkliniken behandelt, eine Zunahme von 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Anstieg sei überwiegend auf die Zunahme von Meldungen über psychische Misshandlungen durch Miterleben häuslicher Gewalt zurückzuführen, teilte die Fachgruppe im Mai 2023 mit. Die Zahl dieser Fälle sei um 64 Prozent gestiegen.

Neben der nun lancierten Kampagne von Kinderschutz Schweiz tut sich auch etwas auf gesetzlicher Ebene. Im September hat der Bundesrat die Vorlage zur Umsetzung der Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» präsentiert. Der Bundesrat anerkennt darin, dass nebst körperlicher Gewalt auch psychische Gewalt keinen Platz in der Erziehung haben dürfe. Im Frühling behandelt voraussichtlich der Nationalrat das Geschäft, bevor es in den Ständerat geht.

Für Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz ist dieser Schritt ein wichtiges Signal. «Es zeigt, dass die gewaltfreie Erziehung der Normalfall ist», sagt sie. Bisher sei das nicht der Fall gewesen. Das mache es auch Lehrpersonen oder Lehrmeistern einfacher, Eltern gegenüber Fälle von psychischer Gewalt anzusprechen.

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