Mit seinem DDR-Roman «In Zeiten des abnehmenden Lichts» ist Eugen Ruge berühmt geworden. Den Konformitätsdruck, vor dem er einst geflüchtet ist, spürt er heute wieder – vor allem im Umgang mit abweichenden Meinungen.
Die Strasse wird von Laubbäumen und sanierten Altbauhäusern gesäumt, das Werbeschild eines Immobilienmaklers ist mit «Bonzen raus» übermalt. Eugen Ruge wohnt in einem noblen Quartier im Prenzlauer Berg, manche Strassen in der Umgebung kommen in seinen Büchern vor. Für einen Schriftsteller besitzt Ruge eher wenig Bücher. «Eine Folge davon, dass ich mehrmals umgezogen bin», sagt er, während er Kuchen und Kaffee auftischt.
Dafür finden sich in der Wohnung viele Erinnerungsstücke. Etwa ein präparierter Leguan, den seine Grosseltern aus dem politischen Exil in Mexiko mitbrachten. Oder ein zerfleddertes Lateinbuch, das Ruges Vater im sowjetischen Gefangenenlager dabeihatte. Zeugnisse einer, wie es Ruge nennt, «verrückten Familiengeschichte». Diese Geschichte hat der 70-Jährige in mehreren Romanen verarbeitet, zuerst in der DDR-Familiensaga «In Zeiten des abnehmenden Lichts».
Der 2011 erschienene Roman machte Ruge berühmt. Er ist über eine Million Mal verkauft und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden. Sein Vater und seine Grosseltern waren überzeugte Kommunisten, die während der stalinistischen Säuberungen beinahe umgekommen wären. Er ist 1954 in der Sowjetunion zur Welt gekommen und in der DDR aufgewachsen. 1988 flüchtete er in den Westen. Wie viele Ostdeutsche hat Ruge ein feines Sensorium für Ideologie. Sein jüngster Roman, «Pompeji», ist eine Parabel auf den irrationalen Umgang mit dem Klimawandel, angesiedelt im alten Rom, witzig erzählt und mit katastrophalem Ausgang für die Protagonisten.
Für ein Interview zögert er zunächst, weil er mit seiner Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine immer wieder aneckt.
Herr Ruge, die DDR ist vor 35 Jahren untergegangen. Der Umgang mit ihr ist ambivalent: Einerseits reisst man Gebäude ab und benennt Strassen um, andererseits gibt es Suppendosen mit Hammer und Zirkel und einen Hype um den Trabi. Wie sehen Sie das als ehemaliger DDR-Flüchtling?
Vieles von dem ist Kitsch und Kommerz, oft nachgefragt von jungen Leuten, die das hip finden. Ohne zu verstehen, was sie kaufen. Ich habe die DDR nicht gemocht, und ich war, zumindest als ich dort lebte, nicht in der Lage, die Errungenschaften dieses Landes zu sehen. Später habe ich mit wachsendem Ärger verfolgt, mit welcher Häme und mit welcher Bösartigkeit nachträglich über die DDR hergezogen wurde. Dieses Niedermachen hält ja bis heute an.
Wird die DDR Ihrer Meinung nach zu schlecht gemacht?
Man hat jahrzehntelang propagiert, dass es in der DDR gar nichts Gutes gab. Der Maler Georg Baselitz sagte nach der Wende sinngemäss, in der DDR habe kein einziger brauchbarer Maler gewirkt, nur, Pardon, wörtlich: Arschlöcher. Solche Töne gab es massenhaft, es war die Haltung der westlichen Eliten. In der DDR gab es angeblich kein Design, keine Wissenschaft, gar nichts. Jetzt sieht man: Ganz so einfach ist es nicht. Es gab in der DDR auch Design. Es gab auch Wissenschaft, trotz aller Ideologie. Und man zweifelt sogar, ob es richtig war, den Palast der Republik durch eine Schlossattrappe zu ersetzen. Ich will die DDR nicht wiederhaben, aber es war dort auch nicht alles Schrott.
Die Ostdeutschen gelten im Westen bis heute als exotische Spezies, die falsch wählt und potenziell gefährlich ist. Warum sind sie anders? Oder sind sie das gar nicht?
Das Problem liegt schon in Ihrer Frage. Sie könnten mich auch fragen: Sind die Westdeutschen anders? Warum sind sie überhaupt der Massstab? Es gibt diesen kolonialen Blick, weil Politik, Medien und Kultur von Westdeutschen dominiert sind. Als ob die Ostdeutschen ein zu erziehendes Volk wären, das man an die westdeutsche Kultur heranführen müsste. Das ist keine gute Gesprächsvoraussetzung.
Die Ostdeutschen fühlen sich nicht ernst genommen?
Das Hauptproblem ist, dass die Leute mit einer permanenten Demütigung leben müssen. Es geht ihnen materiell immer noch schlechter als jenen im Westen, die nach der Wende einen grossen Vorsprung hatten, finanziell. Viele sind ja Erben, sie kaufen Häuser im Osten. Der Talkmaster Markus Lanz sagte kürzlich, in Leipzig sei doch alles wunderschön, alles restauriert. Aber wem gehören denn die Häuser? Unser Haus ist exemplarisch: Es gibt 36 Wohneinheiten, aber wir sind die einzigen ostdeutschen Eigentümer hier. Der überwiegende Teil der Intendanten, der Manager, der politisch Verantwortlichen stammt aus dem Westen. Und dann sind die Leute im Osten mehrheitlich unzufrieden mit der Ukraine-Politik. Für all das finden sie keine politische Ausdrucksmöglichkeit innerhalb der etablierten Parteien.
Hat der Erfolg der AfD oder des Bündnisses Sahra Wagenknecht also mehr mit Unzufriedenheit zu tun als mit politischen Präferenzen?
Ich glaube, die Entscheidung für die AfD heisst nicht, dass die Wähler Nazis sind. Das sind Leute, die das Gefühl haben, mit dieser Wahl werde ihre Stimme endlich mal hörbar. Es gibt Leute in der AfD, die sind rechtsextrem. Björn Höcke spielt mit Nazisprache. Die Partei ist immer extremer geworden, aber auch weil man sie von Anfang an als rechtsextrem ausgegrenzt hat, als sie noch die Lucke-Partei war. Man hat alles, was von der AfD kam, skandalisiert. Sie wurde in einen Bunker gedrängt. Und aus dieser Bunkermentalität heraus entsteht nichts Gutes.
Die AfD hat einen extremen Flügel, der Verbindungen zu Rechtsradikalen pflegt. Sollte man die Partei verbieten?
Man kann nicht einfach eine Partei verbieten, die zwanzig oder dreissig Prozent der Stimmen erhält. Dann ist man nicht weit von Brechts Vorschlag: Die Regierung suche sich ein anderes Volk! Wenn man das tut, droht der Bürgerkrieg. Die bisherige Taktik der Ausgrenzung hat nicht funktioniert. Wir reden jetzt über den Osten, aber auch im Westen fühlen sich viele in der repräsentativen Demokratie nicht mehr repräsentiert.
Sie sind 1988 aus der DDR in den Westen geflüchtet. Wie hat man Sie als «Ossi» empfangen, und wie haben Sie damals die BRD erlebt?
Ich bin an den Niederrhein gekommen und habe zuerst versucht, nicht aufzufallen mit meinem Berliner Ton. Die Bevölkerung dort hat jedoch einen sicheren Instinkt für das Fremde, hin und wieder bekam ich das schon zu spüren. Aber ich habe dort viele wunderbare Menschen kennengelernt. Und nicht zuletzt: Die Bundesrepublik war damals eine ganz andere. Was man heute den neoliberalen Kapitalismus nennt, fing damals erst gerade an. Es war mal eine Art soziale Marktwirtschaft, und es war vor allem eine pazifistische Gesellschaft, die Grünen waren pazifistisch, die SPD und die Medien auch. Es war ein freies, offenes Land. Das hat sich extrem verschlechtert, nicht nur in Deutschland.
Inwiefern?
Ich bin zwar kein Pazifist, aber ich halte es für einen Indikator der Demokratie, wie ein Land mit seinen Pazifisten umgeht. Im Augenblick ist es bei allen brisanten Themen so. Es gibt keine Bereitschaft, den Standpunkt des anderen zumindest mal nachzuvollziehen. Überall prallen die Meinungen mit unglaublicher Wucht aufeinander. In Berlin demonstrieren sie gegen Hass und skandieren dabei «Ganz Berlin hasst die AfD!». Das ist fast schon lustig.
Das politische Klima war früher doch auch nicht so friedlich. Im Kalten Krieg galten Linke als Staatsfeinde und Bürgerliche als Militaristen und Kriegstreiber.
Das stimmt. Natürlich gab es schon immer Denunziationen und Herabwürdigungen des politischen Gegners. Aber obwohl wir heute alle so empfindsam und hellhörig geworden sind, wird gleich jeder als Nazi verunglimpft. Peter Handke wurde mit Hitler verglichen. Oder nehmen wir Corona, wo jeder niedergemacht wurde, der Zweifel an der Corona-Politik der Regierung hatte. Ich habe das selber erlebt, hier vor meiner Haustür.
Weil Sie gegen die Impfung waren?
Nein, ich selber bin dreimal geimpft. Aber ich bin zufällig mit dem Fahrrad vorbeigekommen, als eine Gruppe gegen die Impfpflicht demonstriert hat. Das waren ganz gewöhnliche Menschen, Frauen und Männer, mit Beatles-Musik und Regenbogen-Fähnchen. Am Rand standen Gegendemonstranten, meist in Schwarz, und haben auf diese Menschen eingebrüllt. «Wir impfen euch alle!», das war die Parole. Als ich denen sagte: «Leute, nun lasst die doch mal demonstrieren», haben zwei junge Kerle mir gleich Prügel angeboten.
Sie sehen die Meinungsfreiheit als bedroht an?
Natürlich ist es nicht gesetzlich verboten, seine Meinung zu sagen. Wir wissen doch alle, wie schnell die gesellschaftliche Ächtung droht. Man wird zur Vorsicht gezwungen, zur Selbstzensur. Erinnern Sie sich an den Künstler Sam Durant, der mit einer Galgenplastik gegen die Todesstrafe protestieren wollte? Da von der Todesstrafe auch Minderheiten betroffen sind, wurde ihm vorgeworfen, er nutze deren Leid aus. Er wurde dazu gebracht, sich von seinem Werk zu distanzieren, es zu vernichten und Selbstkritik zu üben. Solche Dinge passieren, wo ich mir sage: Moment mal, was soll das? Dieses Denunzieren, dieses Asche-aufs-Haupt-Streuen und dieses Um-Verzeihung-Bitten, das erinnert mich an etwas.
Sie spielen auf die DDR an, in der Funktionäre, Schriftsteller und Künstler «Selbstkritik» üben mussten oder gar verhaftet wurden, wenn sie etwas Falsches gesagt hatten. Kann man das wirklich vergleichen?
Sie kamen auch in der DDR nicht für alles gleich ins Gefängnis. Auch der Dramatiker Heiner Müller kam ja nicht ins Gefängnis, weil er Stücke schrieb, die der Staatsführung nicht passten. Aber er hatte jahrelang mit Aufführungsverboten zu kämpfen. Bis er dann weltberühmt wurde. Natürlich ist es heute nicht so wie in der DDR. Sonst müsste ich darüber nachdenken, wohin ich abhaue. Es passieren jedoch Dinge, die erinnern unangenehm an die DDR. Gerade dieses Gefühl, dass man geächtet wird, sobald man etwas sagt, das jenseits des Mainstreams ist.
Mit «man» meinen Sie auch sich selber?
Ja, das merke ich sogar an mir selbst, obwohl ich immer versucht habe, zurückhaltend zu argumentieren, die verschiedenen Aspekte einer Sache im Auge zu behalten. Ich will mich nicht beschweren, die Leser kaufen meine Bücher. Aber vonseiten des kulturellen und des medialen Betriebs spüre ich schon eine gewisse Zurückhaltung, seit ich mich hin und wieder zu Wort gemeldet habe.
Mit der Ukraine-Politik sind Sie unzufrieden, wie viele andere Ostdeutsche. Ist es denn falsch, ein Land mit Waffen zu unterstützen, das überfallen wurde?
Es ist für mich schwer, jetzt zu sagen, was richtig ist, nachdem jahrelang eine Politik gemacht wurde, die ich für falsch halte. Wir sehen in Putin das geborene Monster. Das ist Märchenlogik. Putin war ursprünglich keineswegs ein Feind des Westens. Er hat sich – im Gegenteil – um den Westen bemüht, ja den Westen bewundert. Er wollte nicht mit China gehen, sondern mit Deutschland. Der Westen hat Russland zurückgestossen, sicher auch durch die Osteuropäer beeinflusst. Man hat sich nicht gekümmert, was dieser blöde Putin will. Man hat die Nato erweitert, Abrüstungsverträge gekündigt, Truppenparaden an der russischen Grenze durchgeführt. Man muss den Standpunkt nicht teilen, aber man könnte versuchen, nachzuvollziehen, wieso Russland sich bedroht fühlt. Ich glaube nicht, dass man Frieden erzwingen wird, indem man Russland weiter unter Druck setzt.
Russische Oppositionelle würden wohl bestreiten, dass Putin ein westlicher Liberaler war. Und ob er jemals Frieden will, ist ebenfalls fraglich. Wenn man ihm in der Ukraine entgegenkommt, könnte er versuchen, weitere Länder unter Kontrolle zu bringen, etwa im Baltikum.
Woher kommt diese Behauptung, dass Putin andere Länder angreifen will? Russland hatte konkrete Forderungen, man kann sie nachlesen: eine neutrale Ukraine, keine westlichen Truppen an Russlands Grenze – was nicht bedeutet: keine Nato-Truppen –, Autonomie des Donbass, der russischsprachig ist und der mit überwältigender Mehrheit Janukowitsch gewählt hat. Man hat diese Forderungen als dummes Zeug abgetan. Grossartige Diplomatie! Man sollte mehr auf Politiker hören, die nicht mehr wiedergewählt werden wollen. Henry Kissinger, der nicht zimperlich war, warnte 2014 davor, dass der unbedingte Wille des Westens, die Ukraine in seinen Einflussbereich zu bekommen, nicht gut enden werde. Er sagte: «Um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine niemandes Vorposten sein.»
Es geht doch nicht um den Willen des Westens. Die osteuropäischen Länder wollen unabhängig sein, und sie wollen in die Nato, nach einschlägigen Erfahrungen mit Russland.
2007 wollten weniger als zwanzig Prozent der Ukrainer in die Nato. Die Ukraine war ein gespaltenes Land, jeder wusste das. Und was die einschlägigen Erfahrungen betrifft: Wollen wir mal nicht ganz vergessen, dass Russland aus Osteuropa abgezogen ist. Man muss dafür nicht danken. Aber eigentlich standen die Chancen für Verständigung gut. Für mich ist es einfach wahnsinnig traurig, dass diese historische Chance verspielt wurde. Ich sehe die Beziehungen zwischen Europa und Russland für Jahrzehnte zerstört und die russische Gesellschaft auf einem schrecklichen Weg Richtung Iran und Korea. Nein, Kissinger hatte vollkommen recht, man hätte das friedlich lösen können und müssen. Es ist ein Grauen, was passiert. Und die Toten sind nicht mehr wiederzuerwecken.
Sie sind bei dem Thema Russland und Ukraine ziemlich emotional. Ihre Mutter war Russin, Sie sind in Russland geboren. Fühlen Sie sich auch ein wenig als Russe?
Biografisch bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich zum Teil als Russe zu fühlen. Aber entscheidend ist für mich die Sprache. Identität kommt nicht aus den Genen, auch nicht aus dem Pass, sondern aus der Sprache. Wer Deutsch spricht, ist für mich Deutscher, wer Russisch spricht, Russe. Und ich spreche relativ schlecht Russisch und relativ gut Deutsch. Zu Russland habe ich auch kein besonders gutes Verhältnis.
Warum?
Ich konnte mir nie vorstellen, in Russland zu leben, auch vor 2014 nicht. Ich bin alles andere als russophil. Das ist nicht mein Land. Und ich verteidige auch nicht diesen Krieg. Ich bin einfach ratlos. Ich will, dass meine Enkel leben. Ich denke darüber nach, wie man auf dieser engen Erde miteinander auskommt. Das Problem des Klimawandels werden wir nicht lösen ohne Russland, Indien und China. Und die Friedensfrage schon gar nicht.
Die Geschichte der Familie Ruge ist eng mit Russland verbunden. Eugen Ruges Grossmutter Charlotte Ruge und sein Stiefgrossvater Hans Baumgarten engagieren sich in den 1920er und 1930er Jahren in der Kommunistischen Partei Deutschlands und im Geheimdienst der Komintern. Seit 1933 in der Sowjetunion, werden sie während des grossen Terrors als Freunde eines Verräters denunziert. Im Moskauer Hotel Metropol hält man sie monatelang fest. Aus unbekannten Gründen entgehen sie Gefängnis und Erschiessungskommandos, dürfen nach Mexiko ausreisen und kehren nach dem Krieg in die neu gegründete DDR zurück.
Ihre beiden Söhne haben weniger Glück: Beide werden in der Sowjetunion als feindliche Ausländer verhaftet und in Lager gesperrt. Gestützt auf Charlottes Kaderakte, hat Eugen Ruge die Geschichte im 2019 erschienenen Roman «Metropol» verarbeitet. Die Grossmutter und der Stiefgrossvater erscheinen auch in seinem Erstling, «In Zeiten des abnehmenden Lichts», als verschrobenes Paar, das in der DDR linientreue Artikel schreibt und mit Orden überhäuft wird. Die Grossmutter soll sich die Ohren zugehalten haben, als ihr Sohn Wolfgang (Eugen Ruges Vater) erzählte, dass Stalin ein Mörder sei.
Eines Ihrer grossen Themen sind Ideologie und Glaube. Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Deshalb verdrängen sie, dass der Stalinismus mörderisch ist oder dass der Klimawandel ihre Existenz bedroht.
Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. – Der Satz ist zu einfach, aber er trifft auf jeden Fall etwas. Die Umstände, aus denen man kommt, Vorbilder, Interessen, Gruppenzwang – all das bestimmt unseren Standpunkt. Deswegen zweifle ich auch, ob ich irgendwen überzeuge.
Viele in Ihrer Familie hätten ihren Glauben fast mit dem Leben bezahlt: Ihre Grosseltern, die beinahe als Verräter erschossen wurden, Ihr Vater und Ihr Onkel haben mit Glück überlebt. Durfte über diese Dinge gesprochen werden?
Privat hat mein Vater offen darüber geredet. Aber natürlich wäre es mir nie in den Sinn gekommen, im Geschichtsunterricht die stalinistischen Verbrechen anzusprechen.
Hatte die DDR-Führung Angst vor Überlebenden des Terrors? Sie wussten vieles, was nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte.
Diese Befürchtung gab es. Aber die meisten dieser Heimkehrer, mein Vater auch, glaubten, dass nach dem Stalinismus der wahre Sozialismus kommt. Sie blieben Kommunisten, der Kapitalismus war keine Alternative, auch für meinen Vater nicht. Mein Vater hätte eine Aufarbeitung des Stalinismus begrüsst. Aber er hätte sich, trotz zunehmender Verzweiflung, deswegen nicht mit der DDR-Führung überworfen.
Ihr Vater wurde 1941 als feindlicher Ausländer nach Kasachstan deportiert, im Lager ist er fast verhungert. Sein Bruder hat ebenfalls überlebt, im Roman «Metropol» wird er jedoch erschossen. Weshalb?
Ich konnte einfach nicht zwei Brüder überleben lassen, weil die Chancen zum Überleben katastrophal gering waren. Hier ist die Literatur sozusagen wahrer als das Leben. Man hat die Leute in den Lagern zwar nicht systematisch umgebracht wie bei den Nazis. Aber sie mussten Eisenbahntrassen bauen oder Bäume fällen, bei Hungerrationen, wobei ja das ganze Land hungerte. Mein Vater hat mit List und starkem Willen überlebt. Er hatte auch Glück, dass er nicht in einem Straflager mit Kriminellen war, sondern nur in der «Arbeitsarmee». Mein Onkel hat überlebt, weil er Röntgen-Techniker war und im Lager Feldscher wurde, also Sanitäter.
Ihre Mutter war Russin und hat Ihren Vater kennengelernt, nachdem die Deutschen in Russland grausame Verbrechen verübt hatten. Wie haben sich die beiden gefunden?
Nach dem Krieg war mein Vater nur noch Verbannter, nicht mehr Lagerinsasse. Da das Lager in der Region fast der einzige Arbeitgeber war, arbeitete er dort als Zeichner. Meine Mutter war als Soldatin an der Front gewesen, wohnte in Moskau. Weil ihre Mutter krank war, kehrte sie zurück nach Soswa, wo ich später geboren wurde. Sie suchte einen Job als Zeichnerin – und fand ihn in jenem Büro, wo mein Vater arbeitete. Im Lager! Sie war immer vorurteilsfrei, sowohl Sträflingen als auch Deutschen gegenüber. Die waren natürlich nicht sehr beliebt, nachdem sie Russland überfallen und vierzehn Millionen Zivilisten umgebracht hatten. Den Deutschen fällt es immer noch schwer zu verstehen, welche Katastrophe dieser Krieg für Russland bedeutete.
«Meine Mutter war immer vorurteilsfrei, sowohl Sträflingen als auch Deutschen gegenüber»: Eugen Ruges Eltern Taissja und Wolfgang lernten sich in der Sowjetunion kennen.
Zurück in der DDR wurde Ihr Vater ein anerkannter Historiker. Hat Ihnen das geholfen?
Mein Vater war ein bekannter Historiker, aber keine Berühmtheit, hatte auch keine hohen Funktionen. Aber klar, er hat versucht, mich zu beschützen. Ich hatte ja immer eine grosse Klappe. In der Oberschule, wo man auf einen gewissen Klassenstandpunkt Wert legte, hatte ich mal vergessen, zu einer FDJ-Versammlung das blaue FDJ-Heft anzuziehen. Der Direktor stellte mich zur Rede, auch weil ich lange Haare trug, was in der DDR zu jener Zeit noch verpönter war als im Westen. Da meldete sich ein Schüler in der hinteren Reihe und sagte: «Im Jom-Kippur-Krieg hat er auch so eine abweichende Meinung vertreten.» Und dann stand noch einer auf, um dem Direktor mitzuteilen, dass ich Westsender höre. Da ging es natürlich los. Mein Vater ist dann in die Schule gefahren und hat dem Direktor gesagt: «Wenn es nach der Haarlänge ginge, wäre Marx der schlechteste Marxist der Welt. Und Chruschtschow (der kahlköpfige Generalsekretär der KPdSU, der 1964 abgesetzt wurde, Red.) der beste.» Das hatte eine gewisse Wirkung.
In Ihrem Buch «Pompeji» beschreiben Sie eine Gesellschaft, die untergeht, weil sie das Offensichtliche nicht wahrhaben will: einen drohenden Vulkanausbruch. Wie pessimistisch sind Sie, was die Zukunft angeht?
Ich bin eher pessimistisch, was die Zukunft betrifft. Jede Zivilisation hat ihren Höhepunkt, und ich denke, wir sind dabei, ihn zu überschreiten. Es ist dem Kapitalismus nicht gut bekommen, dass er sich den Osten einverleibt hat. Das hat zu einer Hybris geführt. Der Kapitalismus frisst die Welt noch schneller auf als der Sozialismus. Es ist ein wahnsinniger Verschleiss, wir beuten die Erde aus, und es macht uns nicht einmal glücklich.
In Deutschland sind bald Neuwahlen. Wenn man Ihnen zuhört, könnte man Sie als Wähler des Bündnisses Sahra Wagenknecht verorten.
Zum Glück gibt es in Deutschland das Wahlgeheimnis. Aber Sie haben recht, es gibt Überschneidungen. Was mir beim BSW fehlt, ist das Zusammendenken von Klima, Wirtschaft und Ressourcen, die sind ja eher strukturkonservativ. Allgemein möchte ich dafür plädieren, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Was Menschen tun, kann man fast immer verstehen, die wenigsten sind komplett verrückt. Wenn man Demokratie als System versteht, in dem nur die eigene Meinung gilt, hat man sie falsch verstanden. Es braucht mehr Empathie. Die Literatur ist ja ein grosses Empathietraining. Leider lesen immer weniger Menschen.