Sekundenschnell
Züge erreichen oder verpassen? Eineinhalb Sekunden können darüber entscheiden, denn so lange bleiben die Zeiger der Bahnhofsuhr im Stillstand, ehe sie einen Sprung weiter machen. Erfunden hat diese Technik der Elektroingenieur und Gestalter Hans Hilfiker.
Anderthalb Sekunden – so lange tun die Zeiger von Schweizer Bahnhofsuhren keinen Wank. Dann erst wandert der Sekundenzeiger weiter, während der Minutenzeiger einen Sprung nach vorn macht und Züge sich in Bewegung setzen, als hätten sie den Entschluss dazu im Moment des Innehaltens der Uhr gefasst.
Es ist ein gebieterischer Stillstand, den der Schweizer Elektroingenieur und Gestalter Hans Hilfiker seinen vor 80 Jahren eingeführten Chronometern mit eingebaut hat. Sollten sie defekthalber ausnahmsweise nachgehen, darf der Lokführer trotzdem nicht losfahren, bevor die Pause vorbei und der Minutenzeiger in die vom Fahrplan erforderte Position gerückt ist. Selbst auf Irrläufen stellt die Bahnhofsuhr ihre Autorität ganz in den Dienst der Reisenden, und jede despotische Willkür bleibt ihr fremd.
Die Schweiz als Vorbild
Den Wunsch nach einer Uhr, deren Sekundenzeiger regelmässig pausiert, hat Thomas Mann schon 1924 im «Zauberberg» formuliert – im Disput zweier Romanfiguren um die objektive Messbarkeit der Zeit. Fast scheint es, als propagiere Hans Hilfikers Uhrendesign-Ikone das Gegenkonzept dazu, jenes der subjektiven Zeitwahrnehmung: Für gefühlte 60 Sekunden braucht der rote Sekundenzeiger nur 58,5. Mit den anderthalb Pausensekunden fordert er dazu auf, in aller Ruhe das Perron zu wechseln.
In Wahrheit ging es Hilfiker um maximale Objektivierbarkeit. Die Pause war ein technisches Nebenprodukt des Meisterstücks, sämtliche Schweizer Bahnhofsuhren zentral zu steuern, was noch einmal eine Steigerung darstellte zur einst revolutionären Idee eines zentralen Fahrplans. Bevor die Eisenbahn in die Schweiz kam, hatte jedes Dorf in seiner eigenen Zeitkapsel gelebt, nur die Sonne und die Kirchturmuhr takteten das Leben der Bauern.
Heute synchronisiert Hilfikers Geburtstagskind dank seinem aparten Look auch den Geschmack der Menschen. Deutsche Bahnhofsuhren sind Kopien der schweizerischen. Die dazu berechtigte Firma Mondaine hat aus dem Klassiker Armbanduhren gemacht, die Firma Apple (zuerst ohne Berechtigung) Zeitanzeigen für das iPad. Den kleinen Schweizer Sekundenzeigertod kennt heute die ganze Welt.