Mittwoch, November 13

Der Nationalpark Eryri im Norden von Wales ist ein Ferienparadies mit weiten, malerischen Landschaften – und fast garantiertem Regen. So wird die Reise dorthin trotz – oder gerade wegen – der häufigen Niederschläge zum Genuss.

Grosse, flache Natursteine ragen eine Handbreit aus dem Waldboden. Wie überdimensionierte Perlen an einer Schnur liegen sie in der Mitte des Weges. Ihre unregelmässigen Oberflächen zwingen dazu, langsam und bewusst zu schreiten. Unwillkürlich verfällt man in einen meditativen Rhythmus, so als näherte man sich einem Zen-Tempel.

Doch das hier ist nicht Japan, und die Trittsteine führen zu keinem religiösen Ort, sondern markieren den einzigen Zugang zu Ty Capel, einem ganz besonderen Ferienhaus in den Hügeln von Nord-Wales.

Es liegt mitten im Nationalpark Eryri, besser bekannt unter seinem früheren Namen Snowdonia. In dem Gebiet findet man kilometerlange Strände, den höchsten Berg der Britischen Inseln ausserhalb der schottischen Highlands und ganz viel malerische Landschaft dazwischen, also für jeden Geschmack etwas.

Klingt so, als sei das hier der ideale Ferienort. Nun ja, wenn es nicht so oft und so ausgiebig regnete. Outdoor-Fans werden jetzt einwenden, dass es einfach die richtige Bekleidung brauche. Stimmt natürlich. Aber wenn man nicht so gut vorbereitet anreist und erst vor Ort merkt, dass die alte Jacke doch nicht mehr dicht ist? Dann hält das Dorf Betws-y-Coed eine so umfangreiche Auswahl an Outdoor-Bekleidungs-Shops bereit, wie man sie in mancher Metropole vergeblich sucht.

Die authentische Restauration von Ty Capel

Doch auch in perfekter Regenkleidung kann ein Schauer nach dem anderen schnell auf die Ferienstimmung drücken. Dafür gibt es ein Gegenmittel: ein kuscheliges Haus, wo man es sich abends, oder bei Dauerregen sogar den ganzen Tag über, vor dem Kamin gemütlich machen kann – wie Ty Capel.

Hier war einmal der Mittelpunkt einer kleinen Dorfgemeinschaft. Das Haus beherbergte Schule und Kapelle. Nachdem die Schiefermienen in den umliegenden Hügeln Ende des 19. Jahrhunderts schlossen, entvölkerte sich die Ortschaft jedoch, und viele Häuser verfielen.

Ty Capel entkam diesem Schicksal, als der Landmark Trust das Gebäude 1967 erwarb. Die gemeinnützige Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, bemerkenswerte Bauwerke zu restaurieren und dauerhaft zu erhalten. Dabei geht sie überaus gewissenhaft vor, und die Ergebnisse der Arbeiten sind beeindruckend authentisch. Finanziert wird all das durch Vermietung an Touristinnen und Touristen. So bekommt man die Möglichkeit, eine Zeitlang in einer Art Museum zu wohnen.

Bizarre Miniaturlandschaften

Glücklicherweise bedeutet das nicht, dass man auf modernen Komfort verzichten muss. Ty Capel ist wie alle Landmark-Trust-Gebäude sehr gut ausgestattet. Aber man spürt genau, wie das Leben hier einmal war, vor allem wie beschwerlich.

Der Zen-artige Weg durch den Wald ist nämlich nur ein kleiner Teil der Strecke, die man zurücklegen muss, um das Haus zu erreichen. Die Route ist wie die Kurzversion einer Wanderung durch den Nationalpark. Und sie ist nicht einfach zu gehen. Gerade bei Regen rutscht man schnell auf dem Schiefer aus. Langsam gehen hilft, und dann sieht man plötzlich botanische Highlights am Wegesrand.

Die hohe Niederschlagsmenge trägt dazu bei, dass die Böden hier relativ sauer sind. Viele Pflanzenarten können unter solchen Bedingungen nicht wachsen, einige wenige hingegen sind perfekt daran angepasst. Der filigrane und zugleich ledrige Rippenfarn (Blechnum spicant) ist eine davon. Zusätzlich zu einem niedrigen PH-Wert braucht er einen frostfreien und ganzjährig feuchten Standort. Kein Wunder also, dass man hier besonders prachtvolle Exemplare findet.

Wer noch genauer hinschaut, dem fallen Moose, Flechten und Pilze auf, die sich hier ebenfalls wohlfühlen. Oft bilden sie bizarre Miniaturlandschaften an den wasserdurchtränkten Hängen rechts und links des Weges.

Nach anhaltendem Regenwetter und wunderbar entspannten Stunden vor dem Kamin versteht man kurz vor der Abreise dann auch, dass die Trittsteine in der Mitte des Waldweges keine übertriebene Verzierung sind. Als begehbare Inseln ragen sie nun hilfreich aus der überfluteten Landschaft.

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