Mittwoch, Oktober 2

Innert weniger Monate verspielte ein Tankstellenmitarbeiter über 70 000 Franken. Das Gericht verzichtet auf den eigentlich obligatorischen Landesverweis.

Der Beschuldigte ist ein anerkannter Flüchtling. 2014 floh er aus Eritrea. Seit 2015 lebt er in der Schweiz. Im Jahr 2023 arbeitete er in einer Tankstelle im Bezirk Meilen. Zum Tatzeitpunkt sei er «unter schwerem Stress gestanden», übersetzt die Dolmetscherin am Meilemer Bezirksgericht seine Schilderungen. Einer seiner Brüder sei in Libyen verschleppt worden.

Er habe jede Woche Videoanrufe erhalten, auf denen zu sehen gewesen sei, wie sein Bruder gefoltert worden sei. Die Entführer hätten 10 000 Dollar für die Freilassung des Bruders verlangt. Zudem habe man ihm in dieser Zeit auch noch mitgeteilt, dass seine Mutter in Eritrea im Sterben liege. Deshalb habe er auch sie mit Geld unterstützen wollen.

Damit begründet der 30-jährige Eritreer, weshalb er zwischen Ende August und Ende November 2023 an seinem Arbeitsort unzählige Sportwetten für insgesamt 70 633 Franken abschloss. Er wettete auf Fussball, Basketball und andere Sportarten und validierte die Wetten über das Swisslos-Terminal in der Tankstelle.

Die Wetteinsätze bezahlte er aber nicht. Die Beträge wurden zwar seinem Arbeitgeber in Rechnung gestellt, jedoch nicht als Fehlbetrag in der Kasse der Tankstelle ausgewiesen. Erst nach drei Monaten bemerkte der Arbeitgeber die kriminellen Machenschaften offenbar und entliess den Eritreer, der monatlich lediglich 3500 Franken Lohn erzielte, fristlos.

Nur 800 Franken gewonnen

Einen handfesten Gewinn erwirtschaftete der Beschuldigte mit seinen Wetteinsätzen nicht. Nur einmal habe er 800 Franken gewonnen, erzählt er der Einzelrichterin. Den Betrag habe er aber sofort reinvestiert. Seinen Familienangehörigen im Ausland habe er nur einmal 100 Franken und einmal 200 Franken schicken können.

Sein Bruder sei auch heute noch in Libyen in Gefangenschaft, werde aber nicht mehr gefoltert, weil ein Onkel inzwischen Geld überwiesen habe. Allerdings nicht genug für eine Freilassung.

Bei der Ausführung seiner Taten sei er regelrecht spielsüchtig gewesen, manchmal sei er alkoholisiert zur Arbeit gegangen, räumt der Beschuldigte ein. Heute spiele und trinke er gar nicht mehr. Er habe grosse Fehler gemacht und aus seinen Fehlern gelernt. Er wolle nur noch für seine Familie da sein und für sie sorgen.

Er werde so etwas «zu 120 Prozent» nie wieder tun. Man könne ihm auch zehn Jahre Probezeit geben, so sicher sei er sich, dass es nie mehr passiere, verspricht er.

Der Staatsanwalt und der Verteidiger haben sich im Vorfeld auf ein abgekürztes Verfahren mit einem Urteilsvorschlag von zehn Monaten Freiheitsstrafe wegen gewerbsmässigen betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage geeinigt. Die Strafe soll bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren ausgesprochen werden.

Eigentlich handelt es sich um eine sogenannte «Katalogtat», die einen obligatorischen Landesverweis zur Folge hätte. Mit Verweis auf den Flüchtlingsstatus des Beschuldigten und einen Härtefall hat der Staatsanwalt aber auf den Antrag verzichtet. Der Beschuldigte ist in der Schweiz verheiratet und Vater eines Kleinkinds. Er arbeitet heute in der Küche eines Restaurants. Die Familie wird aber zum Teil auch vom Sozialamt unterstützt.

Der 30-Jährige erklärt im Gerichtssaal, er werde nie mehr in seinem Leben nach Eritrea zurückkehren. Es wäre ihm lieber, von einem Zug überfahren zu werden. In Eritrea habe er wegen des Militärdienstes sein Studium abbrechen müssen. Er sei dort schikaniert und zwei Jahre lang vom Militär unter Druck gesetzt worden. Auch habe man ihn ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Deshalb sei er schliesslich im Jahr 2014 über Äthiopien, den Sudan und Libyen nach Italien geflohen.

Der Urteilsvorschlag enthält auch noch einen zweiten Straftatbestand: Die Aufenthaltsbewilligung B des 30-Jährigen war im März 2024 seit zwei Monaten abgelaufen, was der Beschuldigte nicht bemerkt habe. Deshalb soll er auch noch wegen fahrlässigen rechtswidrigen Aufenthalts eine Busse von 400 Franken bezahlen. Auch damit ist der 30-Jährige einverstanden. Zudem hat er die Zivilforderung seines ehemaligen Arbeitgebers im Grundsatz anerkannt. Er verspricht, monatlich kleine Beträge abzuzahlen.

Kein Landesverweis wegen Härtefall

Das Bezirksgericht Meilen erhebt den Urteilsvorschlag zum Urteil. Die Gerichtsgebühr von 1500 Franken und 2100 Franken Verfahrenskosten werden dem Beschuldigten auferlegt. Die Übersetzerin erhält 350 Franken Honorar, der amtliche Verteidiger wird mit 2730 Franken entschädigt.

Das Gericht habe den Urteilsvorschlag als richtig und angemessen beurteilt, begründet die Einzelrichterin. Die Einsatzstrafe wird bei 15 Monaten angesetzt, für das Geständnis gibt es eine Reduktion um einen Drittel auf 10 Monate. Das Verschulden sei innerhalb des Strafrahmens noch leicht. Es handle sich bei der geschädigten Firma um ein Grossunternehmen, «das die Deliktsumme besser verkraften» könne als ein kleines Unternehmen.

Beim subjektiven Verschulden habe das Gericht zwar berücksichtigt, wie der Beschuldigte vor Gericht seine damalige Notlage geschildert habe. Dies bewirke aber trotzdem keine Schuldverminderung, weil der Eritreer auch damals genau gewusst habe, dass er ein Delikt beging.

Den Verzicht auf den Landesverweis habe das Gericht genehmigt, führt die Richterin weiter aus. Der Flüchtlingsstatus sei dafür kein Grund. Relevant sei vielmehr, dass es sich im Hinblick auf die Familiensituation um einen Härtefall handle. Der Beschuldigte lebe bereits seit 2015 in der Schweiz und habe seinen Lebensunterhalt grösstenteils selber verdient. Auch jetzt sei er wieder im Arbeitsleben gut integriert.

Der Verurteilte habe auch mehrfach betont, dass er einen grossen Fehler begangen habe. Das Gericht wolle ihm dies glauben und ihm deshalb nochmals eine Chance geben. Die Richterin wies den 30-Jährigen aber warnend darauf hin, dass falls er wieder ein ähnliches Delikt begehe, er damit rechnen müsse, dass die Landesverweisung anders beurteilt würde.

Der Verurteilte bedankt sich zum Schluss höflich für die zweite Chance und dafür, dass er fair behandelt worden sei.

Urteil GG240018 vom 15. 7. 2024, abgekürztes Verfahren.

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