Wegen eines Gendefekts weisen manche Leute erhöhte Werte des «bösen» LDL-Cholesterins auf. Das verstärkt das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Würden Betroffene genetisch untersucht und ihre Familienangehörigen informiert, liessen sich viele Leben retten.

Wenn ein junger Mensch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleidet, ist das ein Schock. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr Umfeld. Und doch: Bei allem akuten Kummer sollten direkte Verwandte daran denken, dass auch sie gefährdet sein könnten. Denn dafür besteht ein erbliches Risiko – von dem die meisten Menschen nichts wissen.

«Es ist traurig, dass wir ein erbliches Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oft erst durch den Super-GAU feststellen», sagt Isabella Sudano, Professorin für innere Medizin und Leiterin der Lipidsprechstunde am Unispital Zürich.

Opfer werden in solchen Fällen nicht nur Raucher und übergewichtige Bewegungsmuffel, sondern auch junge und sportliche Menschen, die sich gesund ernähren. Ein Beispiel für einen Risikofaktor ist der Blutwert Lipoprotein(a), der einmal im Leben bestimmt werden sollte. Ein anderer ist seit Jahrzehnten in den Schlagzeilen – und wird dennoch oft unterschätzt.

«In der Öffentlichkeit gibt es eine falsche Wahrnehmung hinsichtlich des Cholesterins», sagt Isabella Sudano. «Hohe Cholesterinwerte haben eben nicht nur Leute, die sich schlecht ernähren, bei den meisten Menschen sind dafür stattdessen erbliche Faktoren entscheidend.»

So auch bei Claude Meyer (Name geändert). Als er vom Herzinfarkt seines Bruders hörte, konnte er nicht fassen, dass es ausgerechnet diesen getroffen hatte. Der 55-Jährige hatte sich gesund ernährt, war schlank, sportlich, Nichtraucher – wirklich niemand, bei dem man in diesem Alter ein Herzleiden vermuten würde. Durch eine Notfall-Katheterbehandlung überlebte er. Doch es dauerte nicht lange, bis Claude Meyer dank einem Gentest erfuhr: Auch er war wohl nicht weit entfernt von einem Herzinfarkt: Nur zwei Jahre jünger, trägt er das gleiche krank machende Gen wie sein Bruder.

«Taxis für die Blutfette»

Der Gendefekt verursacht erhöhte Werte des sogenannten LDL-Cholesterins (LDL-C). Die entsprechende medizinische Diagnose lautet: familiäre Hypercholesterämie. Davon betroffen ist etwa einer von 250 Menschen, also mehr als 30 000 Schweizerinnen und Schweizer. Die meisten von ihnen, wohl 85 Prozent, ahnen nichts davon.

LDL-C steht für Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin – es handelt sich um einen Komplex aus mehreren tausend verschiedenen Molekülen, etwa die Hälfte davon ist Cholesterin, der Rest besteht aus klassischen Fetten (Triglyzeriden) und Proteinen. Letztere liegen an der Oberfläche und sorgen dafür, dass sich die fettreichen Partikel überhaupt im wässrigen Blut lösen. «Sie sind quasi die Taxis für die Blutfette», erklärt Sudano.

Für LDL-C charakteristisch ist das Apolipoprotein B-100 (Apo-B-100). Dieses wird von Zellen mit dem LDL-C-Rezeptor erkannt – worauf der gesamte Komplex aufgenommen wird. Das bedeutet: weniger LDL-C im Blut. Ist die Aufnahme in die Zellen allerdings gestört, bleibt zu viel LDL-C im Blut. Es lagert sich in den Arterienwänden ab. Die Gefässe verengen sich und lassen dadurch immer weniger Blut durch.

Drei Gruppen von genetischen Mutationen führen zur familiären Hypercholesterämie. Bei Claude Meyer und seinem Bruder sind die Rezeptoren für Apo-B-100 so verändert, dass diese das LDL-C schlechter binden. Eine andere Mutation betrifft das Apolipoprotein B-100. Es kann so abgewandelt sein, dass es seinerseits schlechter an den Rezeptor bindet. Eine Rolle spielt auch das Enzym PCSK9. Es koppelt sich an den LDL-C-Rezeptor, der in der Folge in die Zelle aufgenommen und abgebaut wird – bei einigen Menschen ist diese Funktion genetisch bedingt verstärkt. In allen drei Fällen bleibt mehr LDL-C im Blut zurück.

Die Folge solcher erblich bedingten Veränderungen sind Cholesterinwerte, die weit höher sind als bei Menschen, die keine entsprechenden Gene haben. «Verdacht auf eine familiäre Hypercholesterämie besteht ab LDL-C-Werten von 5 Millimol pro Liter», erklärt Isabella Sudano.

Die Plaque verschwindet nicht mehr

Die gute Nachricht für die Betroffenen: Es ist heute einfach, das LDL-C und das damit verbundene Risiko für die Gesundheit zu senken. «Den besten Wirksamkeitsnachweis gibt es für die Statine», sagt Sudano. «Sie senken nicht nur das LDL-C, sondern stabilisieren auch die Plaque.» Dies klingt erst einmal seltsam, denn schliesslich sorgen ebendiese Ablagerungen für Durchblutungsstörungen, etwa im Herzen, sofern sie sich in fortgeschrittenem Stadium befinden.

«Am gefährlichsten ist allerdings instabile Plaque», erklärt David Nanchen, Professor an der Abteilung für Gesundheitsförderung und Prävention an der Uniklinik in Lausanne. Lösen sich Teile von dieser, können sie sich in feinen Verästelungen der Arterien verfangen und den Blutfluss dort komplett stoppen. Passiert dies in den Herzkranzgefässen, kommt es zum Herzinfarkt, im Gehirn kann ein Schlaganfall die Folge sein, in der Lunge eine Lungenembolie.

Wenn sich die Plaque einmal in den Gefässen abgesetzt hat, verschwindet sie dort nicht mehr. «Wird aber viel LDL-C eingelagert, dann wandern zusätzlich Immunzellen ein», erklärt Isabella Sudano. «Es entsteht eine Entzündung, welche die Plaque instabil macht.» Statine wirken dem entgegen. Für Patienten, die diese nicht vertragen, gibt es heute gute Alternativen, etwa die neuen PSCK9-Hemmer, die gespritzt werden.

«Diese Arzneimittel sorgen dafür, dass insbesondere in der Leber mehr Rezeptoren für LDL-C vorhanden sind und somit mehr LDL-C aus dem Blut genommen wird», erklärt David Nanchen. «Sind die Cholesterinwerte genetisch bedingt zu hoch, sollte man frühzeitig Medikamente einnehmen.» Denn je länger hohe Cholesterinwerte im Körper vorliegen, desto stärker wird das Gefässsystem geschädigt.

Kardiologen streben an, die LDL-C-Werte bei Menschen mit einem erblichen Risiko um 50 bis 60 Prozent zu senken. Bei Patienten, die schon einen schwerwiegenden Gefässverschluss hatten, wird der Wert sogar noch tiefer eingestellt – etwa durch gleichzeitige Verschreibung eines zusätzlichen Cholesterinsenkers.

Suche nach Genvarianten

«Die Medikamente sind nur ein Arm der Behandlung», sagt David Nanchen. «Durch Änderungen des Lebensstils lässt sich der LDL-Cholesterin-Wert zwar kaum beeinflussen. Das Risiko für Herz-Kreislauf wird trotzdem gesenkt, wenn man nicht raucht, eine mediterrane Diät einhält und sich regelmässig bewegt.»

Doch wie erfährt man, dass man erblich gefährdet ist? Hohe Cholesterinwerte verursachen zunächst keine Beschwerden. In einer Studie an der Uniklinik in Lausanne werden Menschen genetisch getestet, von denen bekannt ist, dass sie früher Herz-Kreislauf-Zwischenfälle erlitten haben und zudem stark erhöhte Cholesterinwerte aufweisen.

Bei ihnen suchen Ärzte nach vier verschiedenen Genvarianten. Sie sind jeweils dominant, das bedeutet: Eine Erbanlage – ob von Mutter oder Vater – reicht aus, um eine familiäre Hypercholesterämie zu entwickeln. Eltern, Kinder oder Geschwister sind also mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent ebenfalls davon betroffen.

In der Studie bekamen diagnostizierte Patienten die Möglichkeit, Angehörige per SMS zu einem Test einzuladen und einen Kontakt zu den Studienärzten aufzubauen. Man nennt das Kaskadenscreening. Auf diese Weise wurde auch Claude Meyer vor dem ihm drohenden Schicksal gewarnt.

«Insgesamt konnten wir 160 gefährdete Menschen entdecken», sagt David Nanchen. «Wir hoffen, dass wir mit unserer Studie das Bundesamt für Gesundheit überzeugen können, dass die Kosten für den Gentest und das Familienscreening künftig übernommen werden.»

Noch steht das Verfahren der Allgemeinbevölkerung nicht zur Verfügung. Und doch kann jeder etwas tun – nämlich seinen LDL-C-Wert bestimmen lassen. «Es ist eine weise Entscheidung, dies früh zu tun, wenn in der Familie Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgetreten sind», sagt David Nanchen. «Ist das der Fall, sollte man sein LDL-C spätestens im Alter von 20 Jahren überprüfen lassen. Und sonst generell mit 40.»

Der Bluttest wird im Rahmen eines Check-ups übernommen und kann Menschen mit familiärer Cholesterämie das Leben retten – für alle anderen kann er Anstoss sein, den Lebensstil zu verbessern und so das eigene Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken.

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