Samstag, April 19

In zwei Monaten kommt das neue Stromversorgungsgesetz an die Urne. Die Gegner halten den darin geplanten Ausbau der erneuerbaren Energien für illusorisch. Nun zeigt eine Studie: Das Ziel ist ambitioniert, aber machbar.

Am 9. Juni stimmen die Schweizerinnen und Schweizer über das Gesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ab. Dieses setzt ein ambitioniertes Ziel. Um Engpässe zu verhindern und die Importabhängigkeit zu senken, soll die Schweiz bis im Jahr 2035 insgesamt 35 Terawattstunden (TWh) Strom aus sogenannten neuen erneuerbaren Energien produzieren.

Gemeint sind damit grüne Energieformen wie Wind, Solar und Biomasse. Nicht in diese Kategorie gehört die bereits stark ausgebaute traditionelle Wasserkraft.

Wie ehrgeizig das Ziel ist, zeigt sich, wenn man es mit dem heutigen Landesverbrauch vergleicht. Dieser lag 2022 bei rund 57 TWh. In der Gesamtbilanz würden diese neuen Energieformen also mehr als die Hälfte des gegenwärtigen Stromverbrauchs decken.

Die Gegner der Vorlage halten das für Träumerei. Die Vorlage sei ein «Bschiss», der nicht funktioniere und erst noch teuer sei, meinte etwa die SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Eine vor kurzem veröffentlichte, unter der Leitung der Universität Genf entstandene Studie hat nun berechnet, wie realistisch das Ziel ist. Finanziert wurde sie von einem Forschungsprogramm des Bundes. Sie basiert auf drei Modellen, mit denen die ETH Zürich, die ETH Lausanne (EPFL) und die Universität Genf auf die Stunde genau und in hoher geografischer Auflösung das künftige Schweizer Elektrizitätssystem abbilden.

Produktionsziel des Stromgesetzes «erreichbar»

«Die Idee der Studie war es, diese drei Modelle zu vergleichen, um zu einem möglichst robusten Resultat zu gelangen», sagt die Hauptautorin Evelina Trutnevyte, Professorin für erneuerbare Energiesysteme an der Universität Genf. Das Resultat: «Das ambitionierte Ziel des neuen Bundesgesetzes zur Stromversorgung ist erreichbar.»

Das Referenzszenario wurde für einen Landesverbrauch von rund 61 TWh im Jahr 2035 berechnet. Darin eingeschlossen sind Effizienzgewinne, aber auch ein höherer Stromverbrauch durch Elektroautos und Wärmepumpen. Die Modelle gehen von Beschränkungen für die erneuerbare Stromproduktion aus. Bei der Solarenergie sind das etwa Verluste bei der möglichen Leistung, die auf Schattenwurf oder auf ungeeignete Dächer zurückgehen. Bei der Windenergie wurden Standorte ausgeschieden, die in geschützten Gebieten liegen.

Die Studie berechnet zudem die Investitionen: Um das Ausbauziel von 35 TWh zu erreichen, wären pro Jahr zwischen 1,4 und 1,7 Milliarden Franken nötig. Zwei Drittel davon müssten Elektrizitätswerke und Projektentwickler aufbringen, den Rest die Bevölkerung – insbesondere durch die Installation von Solaranlagen.

Kleine Rolle für die Gaskraft

Die Studie legt zugrunde, dass ab 2035 keine Kernkraftwerke mehr in der Schweiz laufen. Gemäss Evelina Trutnevyte basiert dieses Abschaltdatum auf einem Energieszenario des Bundes, das eine Kernkraftwerklaufzeit von fünfzig Jahren annimmt. Die Kernkraftwerkbetreiber selber rechnen heute bereits mit Laufzeiten von sechzig oder mehr Jahren.

In zwei der drei Modelle spielt zwar die Gaskraft eine Rolle, diese ist allerdings untergeordnet und entfällt auf kleinere Anlagen. Sie würden im Winter entweder gleichzeitig Wärme und Strom produzieren oder in absoluten Notfällen einspringen. Der Bau von grossen Gaskraftwerken ist hingegen nicht nötig. Das Erdgas würde längerfristig durch synthetische Gase wie Wasserstoff ersetzt.

«Das vorgegebene Ausbauziel für neue erneuerbare Energien von 35 TWh ist laut unseren Berechnungen darum realisierbar – sowohl aus technologischer, ökonomischer als auch ökologischer Sicht», fasst Evelina Trutnevyte das Resultat zusammen. In der Jahresbilanz könnte sich die Schweiz 2035 fast oder sogar vollständig mit erneuerbarem Strom versorgen, wie die Berechnungen zeigen.

Weiterhin Importe im Winter

Importe im Winter blieben aber dennoch nötig. Diese würden 2035 je nach Modell zwischen 4,5 und etwas mehr als 8 TWh betragen. Zum Vergleich: Im Winter 2021/22 lag diese Zahl bei knapp 8 TWh. Die in der Studie errechneten Werte liegen zudem nahe an den 5 TWh, welche das neue Stromversorgungsgesetz als längerfristig wünschbares Maximum für den Import im Winter nennt.

Der im neuen Gesetz vorgesehene, starke Ausbau der Erneuerbaren würde den Bedarf an Stromimporten deutlich senken. Das lässt sich an einem weiteren Szenario ablesen, das in der Studie gerechnet wird. Erreicht die Schweiz nur einen Ausbau von 17 TWh – also rund halb so viel, wie im neuen Stromgesetz vorgesehen –, müssen wir im Winter zwischen 10 und 13 TWh Strom importieren.

Zwar ist umstritten, in welchem Ausmass die Schweiz künftig auf Stromimporte setzen kann. Aus Sicht von Evelina Trutnevyte sind Importe aber nur schon aus ökonomischen Gründen sinnvoll. Die wissenschaftliche Literatur zeige, dass die Kosten bis zu 40 Prozent stiegen, wenn jedes Land versuche, sich jederzeit selbst mit Strom zu versorgen.

Viele Wege führen zum Ausbauziel

Die Photovoltaik wird gemäss allen Modellen den grössten Teil des Zubaus ausmachen. «Klar ist aber: Wir müssen die Solarenergie auf den Dächern und Fassaden mit weiteren erneuerbaren Technologien ergänzen. Daran führt kein Weg vorbei», betont Trutnevyte.

Zwei der drei Modelle gehen im Endstadium von einem Ausbau der umstrittenen Windkraft aus. Um das im Gesetz vorgegebene Versorgungsziel zu erreichen, müssten mehrere hundert Windräder errichtet werden. Heute stehen in der Schweiz knapp fünfzig.

Doch laut Evelina Trutnevyte gibt es noch eine weitere Erkenntnis aus der Studie: Es existieren verschiedene Wege, um das Ausbauziel zu erreichen. Dazu gehören eine verstärkte Nutzung von Biomasse für die kombinierte Produktion von Strom und Wärme, mehr PV-Freiflächenanlagen oder ein Fokus auf die Kombination von Solarkraft und Batterien. Wenn allerdings keine dieser Technologien die Photovoltaik ergänze, «muss die Lücke durch Importe gefüllt werden», sagt sie.

Bevölkerung will Energieunabhängigkeit

Eine andere Frage ist, ob ein solcher Ausbau auch sozial akzeptabel wäre. Die Studie hat darauf keine direkte Antwort. Sie umfasst aber eine Befragung der Schweizerinnen und Schweizer zum Thema durch die Universität Bern. 76 Prozent der Befragten lehnen Energieimporte deutlich oder eher ab, 81 Prozent wünschen sich Energieunabhängigkeit.

Die Meinung zu einzelnen Technologien, die zu diesem Ziel führen würden, ist aber weniger klar: Die Unterstützung für Windenergie liegt bei 60 Prozent Ja- oder Eher-Ja-Stimmen. Für grosse Solaranlagen auf Freiflächen beträgt der Wert 56 Prozent, für die Nuklearenergie 45 Prozent. Die Bevölkerung habe eine deutlich negative Einstellung zum Stromimport und einen starken Wunsch nach Energieunabhängigkeit, fasst die Studie die Resultate zusammen. Das deute darauf hin, dass es «ein gesellschaftliches Mandat für ehrgeizige Ausbauziele» gebe.

Importe würden noch in einem anderen Fall an Bedeutung gewinnen: dann, wenn der Stromverbrauch deutlich ansteigen würde. Damit ist längerfristig angesichts der wachsenden Elektromobilität und der Elektrifizierung des Heizens zu rechnen. Für das Jahr 2050 gehen Szenarien inzwischen von einem Bedarf von 80 bis 90 TWh aus – also bis zu 50 Prozent mehr als heute.

Die Studie hat auch ein Szenario berechnet, bei dem das Ausbauziel erreicht wird, der Bedarf 2035 aber nicht bei rund 61 TWh liegt, sondern rund 10 Prozent höher bei knapp 67 TWh. Die Folge: Die nötigen Winterimporte würden um knapp 3 bis 6 TWh zunehmen und sich damit im Extremfall etwa verdoppeln.

Auch darum sei es extrem wichtig, dass die Schweiz weiterhin ins europäische Stromsystem integriert bleibe, sagt Evelina Trutnevyte. Eine soeben angelaufene Studie soll nun zeigen, was wäre, wenn die Schweiz künftig ohne ein Elektrizitätsabkommen mit der EU zurechtkommen müsste – und damit Einschränkungen beim Stromimport drohten.

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