Antoni Lallican für NZZ
Wie jedes Jahr fahren auch in diesem Herbst ganze Familien in ihre Dörfer, um eine Frucht zu pflücken, die ein Nationalsymbol ist. Ein persönlicher Reisebericht.
Als wir am frühen Morgen in den Süden fahren, spielt meine Verlobte ein Lied von Fayrouz auf ihrem Handy ab. Die berühmte Sängerin, deren Stimme man am besten in den frühen Tagesstunden lauscht, wenn die Sonne gerade erst über die Berge gekrochen ist und die Strassen in Beirut noch leer sind, gilt neben der Zeder als eines der Nationalsymbole Libanons. Genauso wie die Olivenbäume. Darauf können sich in dem gespaltenen, multikonfessionellen Land alle einigen.
Fayrouz und die Oliven haben noch etwas anderes gemeinsam: Beide sind immer da – egal, wie schlecht es dem Land geht. Auch jetzt, da sich die Hizbullah-Miliz und Israel einen brutalen Krieg liefern und Teile Libanons unter den Bomben der israelischen Luftwaffe zu einer Trümmerwüste werden.
Die Familie meiner Verlobten stammt ursprünglich aus einem Ort, der in der Kampfzone liegt: Kaukaba, ein kleines, christliches Dorf in Südlibanon, ein paar Kilometer von der israelischen Grenze entfernt. Normalerweise gibt es dort nicht viel mehr als ein paar sonnenbeschienene Strässchen, auf denen wilde Katzen sitzen, und gelb und weiss verputzte Häuser. Und natürlich Olivenbäume.
«Ich werde ganz bestimmt nicht darauf verzichten»
Einige Olivenbäume in Kaukaba sind angeblich über tausend Jahre alt. Jedes Jahr im Herbst reifen an ihren knorrigen Ästen hellgrüne Früchte, die sich – wenn sie nicht rechtzeitig gepflückt werden – in schrumpelige schwarze Knöllchen verwandeln.
Um das zu verhindern und weil die Olivenernte nun einmal dazugehört, wollten die Eltern meiner Verlobten – die eigentlich ihr ganzes Leben in der Nähe von Beirut verbracht haben – zur Erntezeit in die alte Heimat fahren. «Krieg hin oder her», sagte ihr Vater, ein Hobbygärtner und ehemaliger Koch: «Ich habe den Bürgerkrieg überlebt. Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht darauf verzichten.»
Deshalb fahren wir an diesem frühen Samstagmorgen zum Klang von Fayrouz erst über die Damaskus-Autobahn nach Osten, quer durch die immer wieder beschossene Bekaa-Ebene, und dann an der syrischen Grenze entlang weiter nach Süden, nach Kaukaba, in Richtung Front.
Kaukaba ist ein winziger Ort mit rund 200 Einwohnern. Er liegt an einem Hang gegenüber dem Berg Hermon, den hier alle Haramoun nennen. Auf dessen Gipfel kann man in der Ferne ein paar Baracken und Antennen erkennen. Es sind die Stellungen der israelischen Armee, die das Massiv gemeinsam mit den Golanhöhen 1967 von Syrien erobert hat und seither besetzt hält.
Verbundenheit mit der Erde und mit dem Land
Der Olivenhain der Familie liegt unten im Tal, inmitten weiterer Haine, die ebenfalls Familien aus dem Ort gehören. Zwischen laubbedeckten Ästen, Steinmäuerchen und unbefestigten Wegen sind die Stimmen spielender Kinder zu hören. Ganze Sippschaften sind hergekommen, um ihre Oliven zu ernten. Der nahe Krieg hält sie nicht davon ab.
Die Olive ist nicht nur ein Symbol Libanons, sondern der gesamten Levante. Die benachbarten, staatenlosen Palästinenser etwa haben die Frucht zu ihrer National-Ikone gemacht. Immer wieder fahren deshalb internationale Aktivisten ins besetzte Westjordanland, um den Bauern dort bei der Olivenernte zu helfen. Die Olive gilt als Zeichen für die Verbundenheit mit der Erde und mit dem Land.
In Kaukaba ist das ähnlich. Bloss: Das Dorf ist christlich, und die Bewohner hier fürchten sich weniger vor den Israeli als vor dem Hizbullah. Dessen Raketen – so sagen sie – würden immer wieder auf die Felder rund um den Ort fallen. Denn die Miliz, die den mehrheitlich schiitischen Südlibanon beherrscht, schiesst ihre Geschosse von den Hügeln rund um Kaukaba ab.
Die Israeli schlagen dann mit Bombenangriffen zurück. In vielen umliegenden schiitischen Dörfern findet die Olivenernte deshalb nicht statt. Die Früchte verdorren – wenn die uralten Bäume nicht sowieso schon von Bomben zerfetzt oder vom Feuer vernichtet wurden.
Man denkt über Gott und die Welt nach
Kaukaba blieb davon bislang verschont. Auch heute ist es ruhig. Schweigend arbeiten ein paar Syrer in den Hainen. Es sind Arbeiter, die von der Gemeindeverwaltung organisiert wurden und die jede Familie stundenweise beschäftigen kann. Die Männer schlagen mit langen Holzlatten auf das Geäst der Bäume ein, um die reifen Früchte zu Fall zu bringen.
Später sammeln in bunte Röcke gehüllte, ebenso schweigsame syrische Frauen die Oliven ein und sortieren die faulen aus. Ohne die Syrer, die wie überall in Libanon die schwere Arbeit verrichten, würden die Früchte selbst in Friedenszeiten verdorren. Derweil pflücken wir von Hand. Warum, erklärt der Vater meiner Verlobten: Oliven, die zu Öl verarbeitet würden, könne man durch Schütteln vom Baum holen. Diejenigen, die für den Verzehr bestimmt seien, müssten von Hand gepflückt werden.
Die Pflückerei ist eine meditative Angelegenheit. Man steht inmitten der Bäume und fährt mit der Hand an den rauen Ästen entlang. Die Sonne scheint, es ist warm. Manchmal bewegen sich die Blätter im Wind. Alles wirkt friedlich. Man denkt über Gott und die Welt nach – und nicht über den Krieg.
Doch der Krieg ist nah. Die syrischen Arbeiter haben früher in einem Nachbardorf gelebt. Sie sind vor den Bomben geflohen. Er habe seine Familie wegen des Krieges schon nach Aleppo geschickt, sagt ein Mann, der Aymad heisst. Auf die Frage, was er in der nahen Zukunft tun werde, zuckt er mit den Schultern. «Pflücken», sagt er. «Schliesslich muss ich Geld verdienen.»
Libanon ist eines der Ursprungsländer der Olive
Dann gehen mit einem Mal die Bombardierungen los. In der Ferne hört man ein Donnern, am Horizont, hinter einem Hügelzug, steigt Rauch auf. Er stammt aus dem nahen Schiitendorf Khiam, wo sich Israel und der Hizbullah heftige Gefechte liefern. Die syrischen Arbeiter machen unbeirrt weiter, bis sie am frühen Nachmittag die Ernte in Säcke packen und auf einem Toyota-Transporter wegfahren.
Später werden die Oliven in einer Garage zu Öl gepresst. In dem hell erleuchteten Raum arbeiten ebenfalls lauter syrische Männer. Sie wuchten den Inhalt der Säcke auf ein Förderband. Erst werden die Früchte gereinigt, dann von einem Mühlstein zermahlen. Die dabei entstandene Paste wird auf Bastmatten gestrichen und gepresst, bis das Öl heraustropft. Es ist eine Technik wie vor hundert Jahren.
Längst gibt es modernere Maschinen, aber die Leute in Kaukaba bestehen auf der traditionellen Methode. Seine Familie betreibe die Presse seit den sechziger Jahren, sagt Georges Obeid, ein schmaler Mann, der eigentlich für die libanesische Staatssicherheit in Beirut arbeitet. «Aber jetzt ist Erntezeit, und ich kümmere mich um den Betrieb.»
Libanon gilt als eines der Ursprungsländer der Olive. Schon die Phönizier pflanzten hier Bäume, 2000 Jahre vor Christi Geburt. Doch anders als das Öl grosser Produzenten wie Italien oder Spanien gelangt das aus dem Zedernstaat kaum auf den Weltmarkt. Das von Krisen und Kriegen geplagte Land schafft es kaum, seine Produkte zu vermarkten. Stattdessen verkaufen die Familien aus Kaukaba ihr Öl an Bekannte und Verwandte.
35 Bäume, 2700 Dollar
Die Eltern meiner Verlobten besitzen 35 Bäume. Am Ende verdienen sie pro Ernte vielleicht 2700 Dollar. Das ist nicht viel, niemand kann davon leben. Die meisten Leute in Kaukaba haben deshalb einen oder zwei andere Jobs, so wie viele Libanesen. Der Handel mit Oliven bringt jedoch Zusatzeinnahmen, mit denen etwa die Schulgebühr für die Kinder bezahlt wird.
Durch den Krieg ist auch das nicht mehr sicher. Die Leute in Kaukaba pflücken trotzdem weiter. Nicht nur die Eltern meiner Verlobten sind für die Ernte extra in den Süden gefahren. Auch andere Verwandte haben ihre Autos vollgepackt und sich auf den gefährlichen Weg gemacht. Viele Libanesen leben schon seit Generationen nicht mehr auf dem Dorf. Ihm verbunden scheinen sie jedoch auf ewig.
Später übernachten wir im Sommerhaus der Familie. In der Nacht kommt es erneut zu heftigem Beschuss. Die Wände des karg eingerichteten Zimmers wackeln, die alten Schränke ächzen, als rüttle ein Gewittersturm an den Fundamenten des Hauses. Immer wieder hört man das Donnergrollen der Bomben und Granaten.
Am nächsten Morgen ziehen Wolken auf. Vielleicht sei das gut, dann werde weniger bombardiert, sagt der Vater meiner Verlobten. Dann macht er sich daran, auf der Terrasse die schlechten von den guten Oliven zu trennen. Gleich gegenüber liegt ein kleiner Garten mit ein paar besonders alten Olivenbäumen. Ihre Stämme sind innen hohl, ihre Äste sehen aus wie von Gicht befallene Knochen.
Ausgerechnet hier hat Jesus gerastet
Diese Bäume seien nicht nur über zweitausend Jahre alt, erklärt meine Verlobte stolz, sondern auch heilig. Ausgerechnet hier habe nämlich einst Jesus gerastet, gemeinsam mit der Mutter Gottes. Oben auf dem Berg über Kaukaba hat die Gemeindeverwaltung deshalb eine gewaltige Marienstatue errichten lassen. Ihr weisses Gesicht aus Stein blickt jetzt starr auf den Krieg herab.
Nachts, wenn gekämpft wird, erstrahlt sie im Lichte unzähliger Scheinwerfer. Sie leuchtet selbst dann, wenn unten im Dorf wieder einmal der Strom ausgefallen ist. «Die Leute glauben, dass die Mutter Gottes sie beschützt», sagt meine Verlobte, als wir zurück nach Beirut fahren. Jesus kam immerhin bis nach Kaukaba. Zum Glück für das Dorf. Und für die Oliven.