Donnerstag, November 13

«Illegale» sind Agenten, die mit einer falschen Identität unerkannt in der Gastgesellschaft leben. Für zwei vermeintliche Argentinier ging das zehn Jahre gut.

«Buenas noches», sagte Putin und überreichte Sophie einen Blumenstrauss. Die Elfjährige und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Daniel sprechen Spanisch, kein Russisch. Erst auf dem Flug nach Moskau hatten ihnen die Eltern eröffnet, eigentlich Artjom und Anna Dulzew zu heissen. Sie seien auch nicht Argentinier, wie die Kinder glaubten, sondern Russen. Putins Empfang und der rote Teppich galten einem Agentenpaar, das als «Illegale» zehn Jahre lang unter falscher Identität in Argentinien und Slowenien gelebt hatte.

Der Gefangenenaustausch der letzten Woche ruft eine von Moskau seit einem Jahrhundert perfektionierte Form der Spionage in Erinnerung –das Eintauchen und Aufgehen der Agenten als «Nelegalnije» in ihrer Gastgesellschaft. Er wirft zudem Licht auf eine Familiengeschichte, die einem Spionagethriller entstammen könnte. Sie ging im Dezember 2022 abrupt zu Ende, als die slowenische Polizei das Einfamilienhaus der Familie in einem ruhigen Quartier von Ljubljana stürmte. Die Slowenen sollen den Hinweis von einem westlichen Geheimdienst erhalten haben.

«Ludwig Gisch» und «María Rosa Mayer Muños», so die Tarnnamen, wurden verhaftet, die Kinder Sophie und Daniel in ein Heim gebracht. Als sich in den vergangenen Wochen ein Gefangenenaustausch abzeichnete, machte die slowenische Justiz den beiden Spionen eilig den Prozess. Sie erhielten je eine Gefängnisstrafe von 19 Monaten – fast exakt die Zeit, die sie bereits abgesessen hatten. Das werfe ein schlechtes Licht auf die Unabhängigkeit der Justiz, monierte das slowenische Portal «Insider». Doch jetzt war der Weg frei für die Abschiebung. Die Kinder wurden mit den Eltern vereint (sie hatten sie regelmässig besuchen dürfen). Dann flog die Familie unter Bewachung nach Ankara und von dort in einem russischen Flugzeug nach Moskau.

Wie gut waren die «Argentinier» wirklich?

In Slowenien rätselt man, welche Aufträge das Ehepaar für den russischen Auslandgeheimdienst SWR erfüllt habe. Vojko Volk, der zuständige Staatssekretär, verweist auf die weiterlaufenden Untersuchungen und schweigt gegenüber den Medien. Aber, so wird er zitiert: «Ich habe keine Zweifel, die beiden waren sehr, sehr wichtig.» Da ist sich der ehemalige Chef des slowenischen Militärgeheimdienstes Marjan Miklavcic nicht so sicher. Das seien «keine James Bonds», sagte er der «New York Times». Sie hätten schwere professionelle Fehler gemacht.

Artjom Dulzew und Anna Dulzewa, beide 1984 geboren, sind Agenten des SWR – Anna in einem höheren Rang als ihr Mann. Artjom erhält 2013 den Auftrag, aus Uruguay nach Argentinien einzureisen, wenig später folgt ihm Anna aus Mexiko. Das Ziel: die argentinische Staatsbürgerschaft und eine argentinische Identität zu erlangen. Dulzew gibt an, er sei in Namibia zur Welt gekommen und habe österreichische sowie argentinische Vorfahren. Sie behauptet, aus Griechenland zu stammen. Als Ludwig Gisch arbeitet er in Buenos Aires als Kaufmann. 2013 kommt Sophie auf die Welt, zwei Jahre später Daniel. Die Familie erhält im gleichen Jahr die argentinische Staatsbürgerschaft. Drei Jahre später geht es zurück nach Europa.

Sie lassen sich 2017 in Ljubljana nieder, beziehen ein Haus im kleinbürgerlichen Viertel Crnuce, nicht weit vom Zentrum. Das Haus ist von einem hohen Lattenzaun umgeben. Die Nachbarn, nach der Verhaftung von Journalisten befragt, erzählen, sie hätten eigentlich nie Kontakt mit den «Argentiniern» gehabt. Sie hätten ja auch kaum gegrüsst, was man in Slowenien nicht schätzt. Nur manchmal habe man die Kinder im Garten spielen gehört. Sophie und Daniel gehen an die Britische Internationale Schule in Ljubljana. Sie kostet für beide etwa 28 000 Euro im Jahr.

María eröffnet eine Kunstgalerie namens «5’14», die hauptsächlich online funktioniert. Sie besucht laut Medienberichten auch Kunstmessen im benachbarten Zagreb. Doch in der sehr überschaubaren Künstlerszene der Stadt kennt sie niemand. Ludwig gründet ein IT-Unternehmen, das Software-Applikationen anbietet. Beides sind Einzelfirmen ohne Angestellte. Doch was treiben die beiden wirklich? In Ljubljana befindet sich eine Agentur der EU, die für die Koordination der nationalen Energieregulatoren zuständig ist. War sie vielleicht ein Ziel? Bei der Hausdurchsuchung findet die Polizei in einem Geheimfach des Kühlschranks mehrere hunderttausend Euro. Finanzierten die Dulzews andere Agenten? Das bleibt Spekulation. 2019 erhält die Familie eine Aufenthaltsbewilligung für Slowenien.

Was auffällt: Mit dem gegenüber den Behörden deklarierten Einkommen, das laut dem «Wall Street Journal» 2021 25 220 Euro betrug (wozu die Galerie laut der «New York Times» 3 032 Euro beisteuerte), liess sich nicht einmal das Schulgeld bezahlen. Um das herauszufinden, braucht es keine Gegenspionage. Es reicht ein aufmerksamer Steuerkommissär. Den Eindruck, die Familie habe sich nicht mit der heimischen Gesellschaft verbunden, wie es die Strategie der «Nelegalnije» verlangt, bestätigt Milena Povse, die in der Stadt eine Übersetzungsagentur und ein Geschäft für argentinische Spezialitäten führt.

María Rosa? Ludwig? Keine Namen in der Szene

«Ich habe niemanden aus dieser Familie je gesehen oder von ihnen gehört», sagt Povse am Telefon. «Und ich kenne in der argentinischen Szene niemanden, der von ihnen wusste, bevor sie verhaftet wurden.» Die 44-jährige Geschäftsfrau ist vor 22 Jahren aus Argentinien eingewandert und kennt die argentinische Gemeinschaft in Ljubljana gut. Es handle sich dabei um 2000 bis 3000 Personen, die gut untereinander vernetzt seien, erklärt sie. Die Zahl sei relativ gross, weil es in Argentinien eine erhebliche slowenische Diaspora gebe.

Weil man sich kennt und viele enge Beziehungen mit der alten Heimat pflegen, ist Povse sicher: «Wären sie aufgetaucht, wir hätten die beiden schnell enttarnt, über die Sprache vielleicht oder die falsche Familiengeschichte.» Als das Paar aufflog, ging die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Szene. «Es war ein Schock.» Lehrbuchhaft jedenfalls war das abgeschottete Leben der Dulzews nicht, auch wenn jetzt der Kremlsprecher Dmitri Peskow ihre Hingabe für den Dienst loben muss. Denn unter Putin erlebt der Mythos der Selbstverleugnung der patriotischen «Neleganije» eine neue Blüte.

Anders als klassische Agenten, die über Botschaften im Gastland akkreditiert sind, geniessen Illegale keine diplomatische Immunität. Ihnen drohen hohe Gefängnisstrafen, wenn sie nicht ausgetauscht werden. Um an wertvolle Informationen heranzukommen, müssen sie enge Bande in der Gastgesellschaft knüpfen. Sie pflegen geduldig und vorsichtig Beziehungen zu ihrem Umfeld und versuchen, das Vertrauen von Entscheidungsträgern zu gewinnen.

Es ist eine Methode, die unter Stalin in den 1920er Jahren entwickelt wurde – viele westliche Länder hatten die Sowjetunion nicht anerkannt, und Moskau hatte nur wenige Gesandtschaften. Die russische Geschichtsschreibung feiert manche Illegale als Helden, Richard Sorge etwa (der in Japan 1941 hingerichtet wurde) oder Rudolf Abel (der 1962 gegen einen Amerikaner ausgetauscht wurde). Die Prognose sei gewagt: Die Dulzews, die hinter ihrem Gartenzaun verschanzt im beschaulichen Slowenien lebten, werden es in diese Ahnengalerie nicht schaffen.

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