Montag, November 10

Im Rückblick erscheint die Erweiterung 2004 wie selbstverständlich. Doch nur die Furcht vor Krieg und Krisen machte sie schliesslich möglich.

Der «Big Bang» von 2004 gehört zu den seltenen historischen Versprechen, die später auch tatsächlich eingelöst wurden. Die grosse Erweiterungsrunde um acht osteuropäische Länder sowie Malta und Zypern haben die EU stärker, friedlicher und europäischer gemacht. Der Plan ist aufgegangen. Das darf man am 20. Jahrestag, dem 1. Mai, klar feststellen.

Mit Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Polen sowie den beiden Mittelmeerinseln wuchs die Union von 371 Millionen auf 458 Millionen Einwohner und von 15 auf 25 Mitgliedstaaten. Zwar sind die damaligen Newcomer noch immer Nettobezüger von Finanzleistungen aus der Union, aber von der Vergrösserung des Binnenmarktes haben alle Mitgliedstaaten profitiert. Am meisten Deutschland, die Macht in der Mitte.

Nach der Jahrtausendwende kam die Osterweiterung

Jahr des EU-Beitritts der europäischen Staaten

Als Erfolg und Gewinn werten auch die Osteuropäer nach zwei Jahrzehnten den Beitritt. In Estland sind es 81 Prozent der Bevölkerung, in Polen 63 Prozent und selbst in Ungarn 54 Prozent. Und dies, obwohl die Regierung Orban seit langem keine Gelegenheit auslässt, die EU als «Kolonialmacht» zu verunglimpfen. In keinem Land denkt man ernsthaft an einen Austritt. Die Rechtspopulisten von Ost bis West haben ihre Exit-Pläne still und leise ad acta gelegt.

Was im Rückblick wie der notwendige Verlauf der Geschichte erscheint, die Erweiterung der EU nach Osten, war tatsächlich eine Zangengeburt. Nicht wegen der Osteuropäer. Sie waren immer in grosser Mehrheit für den Zusammenschluss. Erpicht darauf, endgültig aus dem Schatten Russlands zu treten und ihren Wohlstand zu mehren, gab es dort kaum Skeptiker. Politiker und Intellektuelle sprachen von der «Heimkehr nach Europa» nach einem halben Jahrhundert nazistischer Fremdherrschaft und kommunistischer Diktatur.

Westeuropäische Skepsis von rechts und links

In Westeuropa dagegen hatten viele gemischte Gefühle. Die politische und wirtschaftliche Elite Frankreichs machte sich Sorgen, dass die Osterweiterung Deutschland stärken und den französischen Einfluss in der Union schwächen würde (was auch geschah). Es war schon damals offensichtlich, dass das wiedervereinigte Deutschland der kontinentale Dreh- und Angelpunkt zwischen Ost und West würde.

Der französische Präsident François Mitterrand wertete die Erweiterung argwöhnisch als ein Nullsummenspiel: Der Nutzen, den die neuen Länder aus dem Beitritt zögen, würde zulasten der Alteingesessenen gehen. Diese Skepsis teilten mit ihm die Nettoempfänger-Staaten im Süden des Kontinents. Und in allen Ländern gab es Stimmen, die vor einem Ansturm osteuropäischer Migranten warnten, die den Einheimischen Arbeitsplätze und Wohnraum wegnehmen würden.

Hinzu kamen kulturalistische Vorurteile. Das eigentliche Europa, schrieben konservative Intellektuelle, sei auf dem Gebiet des karolingischen Reichs des 9. Jahrhundert zu Hause. Der wahre europäische Geist sei also den Gründernationen der EU, Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Ländern, vorbehalten. Das Wachstum entfremde diese Gemeinschaft von sich selbst: Wo sollten ihre Grenzen gezogen werden auf einem Kontinent, der nach Osten weit offen ist?

Eine linke Variante der Erweiterungsskepsis formulierte der britische Historiker Tony Judt. Er befürchtete die schleichende Aushöhlung des Wohlfahrtsstaats. Denn diese zivilisatorische Errungenschaft hätten die westeuropäischen Staaten hervorgebracht – und nicht Osteuropa oder die USA. Doch dieser an den Nationalstaat gebundene Solidarverband, so Judt, werde in einer grossen, transnationalen Union zugrunde gehen.

Integration durch Nachahmung?

Warum wagte die EU schliesslich doch den grossen Schritt? Die kurze Antwortet lautet: aus sicherheitspolitischen Gründen. Natürlich spielte das Interesse der wirtschaftlichen Integration eines Raumes, der zuvor an die Wirtschaftssphäre der Sowjetunion angeschlossen war, eine wichtige Rolle. Aber es bestand darüber hinaus die berechtigte Angst, dass der Nationalismus in Osteuropa (ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit) zu Konflikten zwischen und innerhalb der unabhängig gewordenen Staaten führen würde.

Wer diese Sorge für überzogen hielt, den belehrten die jugoslawischen Zerfallskriege (1991–1999) eines Besseren. Sie führten nicht nur die gewaltige Mobilisierungskraft des Nationalismus vor Augen, den viele Westeuropäer für überwunden glaubten. Sie entblössten auch schonungslos die Unfähigkeit der EU, den Konflikt einzuhegen, geschweige denn zu beenden. Das schärfte die Einsicht in den Regierungskanzleien und in der Öffentlichkeit, dass die Erweiterung eine geopolitische Chance war, die es anzunehmen galt.

Noch 1993 hatte man mit den Kopenhagener Kriterien die Latte für den Beitritt höher gelegt, um den Prozess zu verzögern. Doch um die Jahrhundertwende wurde das Tempo beschleunigt. Seither, so die rumänische Politikwissenschafterin Veronica Anghel, ist die Erweiterungspolitik der EU im Kern ein sicherheitspolitisches Instrument.

Der Integrationsprozess war nicht einfach. Zwar war er wirtschaftlich erstaunlich erfolgreich. Das durchschnittliche Bruttoinlandprodukt pro Kopf der damaligen Beitrittsländer näherte sich mit krisenbedingten Rückschlägen von 17 Prozent (1995) auf 53 Prozent (2023) jenem der alten Mitgliedstaaten an. Der bulgarische Politikwissenschafter Ivan Krastev weist aber darauf hin, dass dies mit grossen gesellschaftlichen Anpassungskosten verbunden war.

Der Transformationsprozess habe oft in einer blossen Nachahmung des westlichen Vorbilds bestanden. Die Gesellschaften mussten politische und wirtschaftliche Reformen umsetzen, die von nicht gewählten Bürokraten aus Brüssel und den Managern internationaler Kreditbanken angeordnet und überwacht wurden. Lokale Traditionen und Handlungsweisen galten als entbehrlich.

Das führte zu Ressentiments und antiliberalen Gegenschlägen. Nicht weil die Osteuropäer ihrer autoritären Vergangenheit nachtrauerten und mental «noch nicht so weit» waren, wie westliche Kommentatoren schrieben. Sondern weil die von den Mentoren behauptete Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Wegs viele Menschen enervierte.

Solche Gefühle der Unterlegenheit hat der russische Angriff auf die Ukraine weggeblasen. Er hat die Stimmen der osteuropäischen Länder mit einem Schlag unüberhörbar gemacht. Denn es zeigte sich, dass etwa die Polen, Esten, Letten und Litauer viel früher verstanden, was jetzt auch Deutsche und Franzosen einsehen: dass Europa mehr sein muss als ein Markt, nämlich wehrhaft. Der Krieg hat den Schwerpunkt Europas weit nach Osten verschoben. Niemand würde mehr behaupten, dass dort Europäer zweiter Klasse leben.

Die Erweiterung ist auch eine Neugründung

Auch sonst gleichen sich Ost und West an. Im Guten wie im Schlechten. Illiberale Parteien, wie es die PiS in Polen oder Fidesz in Ungarn sind, drängen auch in Westeuropa an die Macht – das Rassemblement national in Frankreich, Geert Wilders’ Freiheitspartei in den Niederlanden.

Gleichwohl gibt es in Osteuropa tief verankerte Wertvorstellungen, die weiterhin vom westlichen Mainstream abweichen: etwa das konservative Familienbild, die Skepsis gegen Homo-Ehen oder die Rolle, die der christlichen Religion im öffentlichen Leben zugesprochen wird. Doch man darf die Unterschiede nicht übertreiben: In den neuen wie in den alten Mitgliedländern klaffen die grössten Differenzen zwischen den urbanen Zentren und der ländlichen Peripherie.

Anders als in Brüssel gern behauptet wird, ist die EU eben keine Wertegemeinschaft und ist es immer weniger. Sie ist es höchstens in dem Sinn, dass alle ihre Mitglieder zumindest behaupten, die «Herrschaft des Rechts» zu akzeptieren, eine Rechtsgemeinschaft also. Genügt das für den dauerhaften Zusammenhalt? Vielleicht dann, wenn gleichzeitig das Bewusstsein wächst, auch eine Schicksalsgemeinschaft zu sein. Der Begriff ist nicht überzogen angesichts der Bedrohung aus Russland, der brüchig gewordenen Beziehung zu den USA und der wirtschaftlichen Konkurrenz mit China.

Stärker noch als der «Big Bang» von 2004 wird die nächste Erweiterungsrunde (um die Ukraine, den Westbalkan) sicherheitspolitisch motiviert sein. Und noch stärker wird sie den Charakter der EU, ihre Spielregeln, ja ihre Identität verändern. Schon 2004 hat gezeigt: Die Integration von Neumitglieder ist mehr als ein Klub-Beitritt, sie ist eine Art Neugründung.

Dafür müssen neue Entscheidungsverfahren ausgehandelt, vielleicht ein stufenweises Beitrittsverfahren eingeführt werden. Und die Finanzströme werden mit der Einbindung der Ukraine ganz neue Wege einschlagen. Viele Nettoempfänger werden dann zu Nettozahlern. Es ist eine riesige Herausforderung. Europa kann daran auch scheitern.

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