Montag, Oktober 7

Die Schriftstellerin erzählt in «Mein drittes Leben» aus dem Leben einer Frau, die einen schweren Schicksalsschlag verkraften muss. Ihr Buch ist für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert.

Wohlgeordnet schien dieses Leben, gegen alle Erschütterungen gefeit. Die Mittvierzigerin Linda, als Kuratorin in einer Kunststiftung angestellt, und ihr Mann Richard, der sich mit mässigem Erfolg als bildender Künstler versucht, wohnen zusammen mit ihrer halbwüchsigen Tochter Sonja in Leipzig. Doch schlagartig ist nichts mehr wie zuvor.

Die siebzehnjährige Sonja stirbt bei einem Verkehrsunfall. Zwei Jahre liegt dieser schreckliche Verlust zurück, ohne dass Lindas unermessliche Trauer nachgelassen hätte. Sie hat sich zum Entsetzen ihres auf andere Weise erschütterten Manns aus dem Leben und von ihren Leipziger Freunden verabschiedet und sich im nördlichen Sachsen auf einen Hof zurückgezogen. An dieser Stelle der Geschichte setzt Daniela Kriens Roman «Mein drittes Leben» ein.

Existenzielle Gefahr

Die Nachbarn beobachten die sonderbare, sich abschottende Frau argwöhnisch, doch diese kümmert das wenig. Sie ist froh, in einem Niemandsland angelangt zu sein, wo sie nicht alles und jedes an ihre tote Tochter erinnert. Im Inneren freilich bleibt jeder Schritt, den sie tut, geprägt von dem unsäglichen Schmerz dieses Unglücks: «Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.»

Daniela Krien zeigt aufs Neue ein untrügliches Gespür für die psychischen Nöte ihrer Figuren. Was Menschen ausmacht, was ihre Stärken und Schwächen an den Tag bringt, das – so Kriens erzählerische Grundüberzeugung – erweist sich erst, wenn die Existenz in Gefahr gerät. «Nur der Ernstfall bringt das Wahre im Menschen zum Vorschein», hiess es 2019 in ihrem bisher erfolgreichsten Roman «Die Liebe im Ernstfall».

An niederschmetternden Ereignissen, die sie auf die Probe stellen, hat Linda wahrlich keinen Mangel. Sie erkrankte nach Sonjas Tod an Krebs und verbrachte den ganzen Tag damit, jedes Detail aus dem kurzen Leben ihrer Tochter heraufzubeschwören. Nun, auf dem kümmerlichen Hof, wo ihr allein Hühner, Hund und Katze Gesellschaft leisten, verliert sich das Leid nicht, doch immerhin ist Linda niemandem Rechenschaft schuldig.

Noch eine Wende

«Mein drittes Leben» ist ein kompromissloses, hartes Buch, das die Verzweiflung seiner Protagonistin ohne jede Sentimentalität in jeder Zeile ernst nimmt und auch den Nebenfiguren ihren Stellenwert gibt. Leicht wäre es möglich gewesen, Lindas zwiespältige Dorfexistenz bis zum Ende auszubuchstabieren.

Daniela Krien will im zweiten Romanteil erproben, ob sich die todunglückliche Heldin aus ihrer Sackgasse befreien kann. Da der Mietvertrag für den kleinen Hof nicht verlängert wird, kehrt Linda nach Leipzig zurück. Richard und sie verkaufen ihre alte Wohnung für gutes Geld, so dass Linda fürs Erste finanziell abgesichert ist und zu überlegen beginnt, wofür sie ihren plötzlichen Reichtum sinnvoll einsetzen könnte.

«Mein drittes Leben» ist auch ein beeindruckender Eheroman. Richard, der mit den Nöten seiner Frau nicht zurechtkommt, lässt sich auf eine Beziehung mit Brida ein, einer erfolgreichen Autorin, die bereits in Kriens «Die Liebe im Ernstfall» eine Rolle innehatte. Diese Affäre, die Linda nicht ohne Eifersucht verfolgt, täuscht nicht darüber hinweg, dass Linda und Richard auf vertrackte Weise ein Liebespaar geblieben sind und ohneeinander nicht auskommen.

Ob ein «drittes Leben» mit einer Ahnung von Glück denkbar ist? Die letzten Kapitel des Romans sind eine Gratwanderung. Gross ist die Gefahr, die zuvor beschriebenen Abgründe zuzuschütten und Hoffnungssignale auszusenden. Daniela Krien entgeht den Fallstricken einer vorschnellen Versöhnung. Dieser bewegend kluge Roman bleibt offen bis zuletzt.

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Roman. Diogenes-Verlag, Zürich 2024. 294 S., Fr. 36.90.

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