Bislang fehlte der Überblick, wie hoch die Vollzugsquoten bei den Landesverweisungen sind. Dass hier wohnhafte Ausländer die Schweiz verlassen müssen, wenn sie Straftaten begehen, ist immer noch relativ selten.
Bundesbern ist um einen Running Gag ärmer. Immer und immer wieder haben Wortführer der SVP in den letzten sieben Jahren formell beim Bundesrat angefragt, wie es denn nun aussehe mit der Ausschaffung krimineller Ausländer. Zuerst hatte der frühere Parteichef Toni Brunner diese Aufgabe übernommen, danach hat der Fraktionschef Thomas Aeschi sie mit grosser Akribie fortgeführt.
Sage und schreibe 27 Anfragen von ihnen sind in der Datenbank des Nationalrats vermerkt. Zuerst wollten sie wissen, wie viele Landesverweisungen nach der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative im Herbst 2016 tatsächlich ausgesprochen wurden – aufgeschlüsselt nach Straftat, Kanton und Nationalität. Als dazu erste Zahlen vorlagen, erweiterten sie das Repertoire und wollten zusätzlich erfahren, wie viele der ausgesprochenen Massnahmen wirklich in die Tat umgesetzt worden waren.
Damit trafen sie einen wunden Punkt. Niemand wusste es. Der Föderalismus, den auch die SVP gern hochleben lässt, bringt es mit sich, dass oft der Überblick fehlt. So auch hier: Wie streng oder lasch Landesverweisungen gegen straffällige Ausländer ausgesprochen werden, hängt weitgehend von den kantonalen Gerichten ab. Ob die verhängten Massnahmen anschliessend vollzogen werden, ist alleinige Sache der Kantone.
Ein Drittel geht freiwillig
Jetzt aber, kurz bevor Thomas Aeschi die 28. Anfrage einreichen würde, kann der Bund Zahlen zum Vollzug präsentieren. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat sie am Montag publiziert. Gemäss den Angaben wurden im Jahr 2023 gesamthaft 2250 ausführungsreife Landesverweisungen erfasst; das bedeutet, dass in diesen Fällen die Entscheide rechtskräftig waren und die Täter nicht mehr im Strafvollzug sassen. 73 Prozent dieser Ausschaffungen konnten bis Mitte 2024 vollzogen werden.
Das SEM geht davon aus, dass die Quote noch steigen wird, weil ein Teil der Ausschaffungen erst nach dem Sommer 2024 umgesetzt wurde oder wird. Gut zwei Drittel der «kontrollierten Ausreisen» fanden unter Zwang statt, der Rest freiwillig. Beim Vergleich der Nationalitäten stehen Albanien, Algerien, Rumänien, Italien und Frankreich zuoberst. Mehr als 90 Prozent der Fälle betrafen Männer.
Ob die Behörden eine Ausschaffung vollziehen können, hängt stark vom Heimatland des Täters ab. Innerhalb der EU sind die Quoten tendenziell höher. So konnten die Kantone restlos alle Niederländer, Österreicher oder Ungarn ausschaffen, wobei hier die Fallzahlen relativ klein waren. Bei den Staaten mit vielen Verurteilten schwingt Rumänien mit einer Quote von 92 Prozent obenaus.
Aber auch innerhalb der EU kann es Probleme geben. Auffällig ist, dass nur zwei Drittel der ausgewiesenen Franzosen zurückgeschafft werden konnten. Noch tiefer sind die Quoten ausserhalb Europas bei Ländern wie Guinea (28 Prozent), Eritrea (18) oder Somalia (14). In absoluten Zahlen geht es im Fall dieser Länder um etwa 70 Straftäter, die bis Mitte 2024 nicht ausgeschafft werden konnten. Gesamthaft sind es gut 600 Personen. Allerdings geht der Bund davon aus, dass die Quote letztlich auf über 80 Prozent steigen wird.
Hellseherische SVP
Somit liegt auf die entscheidende Frage eine erste Antwort vor: Letztes Jahr hat die Schweiz 1530 straffällige Ausländer ausgeschafft. Nimmt man die nachträglichen Ausreisen im ersten Halbjahr 2024 dazu, sind es 1670. Sind das nun viele oder wenige? Viel zu wenige, findet die SVP.
Das ist insofern erstaunlich, als die Zahlen in beinahe gespenstischer Genauigkeit ihren eigenen Vorhersagen zur Ausschaffungsinitiative entsprechen. Im Abstimmungsbüchlein hat die SVP 2010 festgehalten: «Bei einem Ja zur Initiative kann mit rund 1500 Ausschaffungen pro Jahr gerechnet werden.» Nun sind es sogar etwas mehr, und dies auch dann, wenn man berücksichtigt, dass ein Teil nicht vollzogen werden kann. Die SVP ist trotzdem unzufrieden.
«Schuld» ist das Bundesamt für Statistik (BfS). Es hat vor acht Jahren eine offensichtlich riskante Schätzung angestellt, wonach mit bis zu 4000 Landesverweisungen im Jahr zu rechnen sei. Darauf beruft sich die SVP noch heute, um weitere Verschärfungen zu verlangen.
Was heisst «ausnahmsweise»?
Der wichtigste Streitpunkt ist wohl auch der Grund für den Schätzfehler des BfS: Niemand konnte voraussehen, wie oft die Härtefallklausel zur Anwendung kommt, die das Parlament beschlossen hat. Die Initiative sah im Prinzip einen Automatismus vor: Wer wegen eines der aufgeführten Delikte verurteilt wird, muss die Schweiz für fünf bis fünfzehn Jahre verlassen.
Die Richter dürfen jedoch davon abweichen, wenn die Ausschaffung einen «schweren persönlichen Härtefall» bewirken würde. Damit wollte das Parlament primär Ausländer schützen, die hier geboren oder aufgewachsen sind. Gleichzeitig steht im Gesetz, dass die Gerichte von der Härtefallklausel nur «ausnahmsweise» Gebrauch machen dürfen.
Inzwischen weiss man, dass die Ausnahmen zahlreich sind. In den vergangenen fünf Jahren schwankte der Anteil der Fälle, in denen die Gerichte von einer Landesverweisung absahen, zwischen 38 und 42 Prozent. Daran stört sich nicht nur die SVP, auch der SP-Ständerat Daniel Jositsch hat diese Praxis kritisiert.
Die Statistiken zeigen, dass die Härtefallklausel vor allem bei Ausländern zur Anwendung kommt, die in der Schweiz wohnhaft sind. Nur 24 Prozent von ihnen mussten vergangenes Jahr die Schweiz verlassen, nachdem sie eine der gelisteten Straftaten begangen hatten. Gross sind die Unterschiede auch je nach Straftat: je schwerer ein Delikt, umso häufiger wird ein Landesverweis ausgesprochen.
Wenn es um Mord oder Menschenhandel ging, kam die Härtefallklausel letztes Jahr kein einziges Mal zur Anwendung, bei schwerem Drogenhandel sowie Diebstahl nur relativ selten. Am anderen Ende der Rangliste tauchen zwei auffällige Delikte auf: unrechtmässiger Bezug und Betrug bei einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe. Beide Straftaten sind relativ häufig, führen aber kaum je zur Ausschaffung, weil dies aus Sicht der Gerichte offensichtlich unverhältnismässig wäre.