Donnerstag, März 20

Bisher galt die Physikerin als rechte Hand des scheidenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Jetzt muss sie beweisen, dass sie aus dem Schatten ihres politischen Übervaters heraustreten kann.

Die linke Regierungskandidatin Claudia Sheinbaum wird laut der offiziellen Hochrechnung Mexikos erste Präsidentin. Die Ex-Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, die als Favoritin galt, erhielt bei der Präsidentenwahl am Sonntag zwischen 58,3 und 60,7 Prozent der Stimmen, wie das Wahlamt des lateinamerikanischen Landes am Sonntagabend (Ortszeit) mitteilte. Die führende Kandidatin der Opposition, Xóchitl Gálvez, wurde von 26,6 bis 28,6 Prozent Prozent der Wählenden unterstützt. Sheinbaum wird am 1. Oktober die Nachfolge ihres politischen Ziehvaters Andrés Manuel López Obrador antreten.

Die Physikerin, die in den USA doktoriert hat, konnte die Mehrheit der Mexikaner mit dem Versprechen überzeugen, die Politik ihres populären Mentors weiterzuführen. Besonders im Sozialen hatte dieser überzeugt und Millionen Mexikaner durch die Anhebung des Mindestlohns und der Renten sowie den Ausbau von Sozialprogrammen aus der Armut befreit.

Sheinbaum verspricht nun ihrerseits Investitionen bei Bildung und Gesundheit. Durch Sozialprogramme will sie 7,5 Millionen in extremer Armut lebende Bürger besserstellen. Neben einer Erhöhung des Mindestlohns will sie die Renten von Frauen überdurchschnittlich anheben und bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und der Unterstützung für Schwangere als erste Präsidentin ihre Marke setzen. Wie sie die Milliardenausgaben finanzieren will, liess sie offen.

Rechte Hand des Präsidenten

Überhaupt umgibt die zierliche und scheue Sheinbaum die Aura eines Enigmas. Wenige wissen, dass sie aus einer jüdischen Familie stammt. Denn über Persönliches wie Religion spricht sie kaum. Ihre extreme Introvertiertheit kann leicht mit Desinteresse oder Arroganz verwechselt werden.

So kennen die meisten sie nur als rechte Hand von López Obrador, der die Physikerin mit Spezialisierung in Energietechnik und Klimawandel im Jahr 2000 in die Politik holte. Nach seiner Wahl zum Bürgermeister machte er Sheinbaum damals zur Umweltministerin von Mexiko-Stadt.

Doch in Erinnerung blieb sie für den von ihr geleiteten Ausbau des Periférico, des zweiten Stockwerks der Schnellstrasse, die die Hauptstadt durchzieht. Umweltaktivisten werfen ihr immer noch vor, dass sie Highways für die Mittel- und Oberschicht errichtet habe, statt den für die Mehrheit der Bevölkerung wichtigeren öffentlichen Transport stärker auszubauen. Sie habe den Willen ihres «Chefs» umgesetzt, verteidigte sie sich.

Später koordinierte sie für López Obrador dessen Wahlkämpfe und Kampagnen wie diejenige gegen die geplante Privatisierung der mexikanischen Ölindustrie. Im Jahr 2011 nahm sie an der von ihm angeführten Gründung der Partei Morena teil, auf deren Ticket sie 2018 als erste Frau überhaupt das Bürgermeisteramt der Hauptstadt eroberte.

Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt während Corona

Doch ihr Mandat verlief unglücklich. Während die Corona-Pandemie die Wirtschaft der Hauptstadt schwer traf, kam es im öffentlichen Verkehr zu einer Tragödie. 2021 kamen beim Einsturz einer Metrolinie 27 Personen ums Leben, über 80 wurden verletzt. Gutachter sprachen ihrer Regierung wegen mangelhafter Instandhaltung eine Mitschuld zu, während Opferfamilien ihr Unwillen zur Aufklärung vorwarfen.

Bei den Distriktwahlen in der Hauptstadt Mitte 2021 erhielt sie den Denkzettel. Morena verlor die Mehrheit der Bezirke. Die Niederlage verunsicherte Sheinbaum, sie schien Halt in ihrem populären Übervater zu suchen. Fortan imitierte sie dessen typischen langsamen Redefluss. Doch was bei ihm charismatisch wirkt, rutschte bei ihr ins Komische. Politische Gegner spotteten, sie sei von seiner Marionette nun zu seinem Klon geworden.

So wurde ihr jüngst im Wahlkampf vorgeworfen, über keine eigenständige Persönlichkeit zu verfügen. Sie sah hinter dem Vorwurf den für Mexiko typischen Machismo. Und versprach: López Obrador werde sie nicht ständig anrufen, um ihr zu sagen, was sie als Präsidentin tun solle.

Doch wird sie sich tatsächlich von ihm emanzipieren können? Seine basisdemokratische Agenda will sie jedenfalls weiterführen, wie die geplante Direktwahl von Richtern durch das Volk. Nachdem López Obrador bereits gegen die Transparenz- und die Wahlbehörde vorgegangen ist, wäre dies ein weiterer Schlag gegen die Institutionen. Wem wird sie mehr verpflichtet sein, López Obrador oder Mexikos Demokratie, fragen kritische Stimmen.

Sicherlich wird sie weniger polarisieren als ihr Vorgänger, der keine Gelegenheit ausliess, es mit den angeblich im Dienste des korrupten Establishments stehenden Medien und Aktivisten der Zivilgesellschaft aufzunehmen. Die mächtige Frauenbewegung verhöhnte er als «Pseudofeministinnen».

Dass Sheinbaum ihm als Bürgermeisterin dabei assistierte und die Polizei auf die demonstrierende Zivilgesellschaft losliess, hat diese ihr bis heute nicht verziehen. Man erwarte von der ersten Frau im Präsidentenamt «wenig bis nichts», erklärten feministische Gruppen.

López Obrador hinterlässt ein schwieriges Erbe

Der Präsident hinterlässt ihr seine megalomanischen Infrastrukturprojekte wie den Maya-Touristenzug durch Südmexiko oder die Ölraffinerie Dos Bocas, die bereits Milliarden verschlungen haben und wohl nie rentabel werden. Das Militär, dem die Bauten unterstellt sind, ist längst zum Staat im Staate geworden, dessen undurchsichtige Geschäfte sich öffentlicher Kontrolle entziehen.

Zudem scheint das Militär tief verwickelt mit dem organisierten Verbrechen. Unter López Obrador hat die Kriminalität neue Rekordhöhen erreicht. In einigen Regionen droht der komplette Kontrollverlust.

Wie ihr Vorgänger will Sheinbaum das organisierte Verbrechen durch Armutsbekämpfung angehen. Die 2019 zur Kriminalitätsbekämpfung ins Leben gerufene Polizeitruppe Guardia Nacional will sie ausbauen. Zudem will sie die Justiz reformieren, die in ihrer Sicht Teil des korrupten Establishments ist und damit verantwortlich für die herrschende Straflosigkeit.

Öffnung in der Aussenpolitik

In der unter ihrem Vorgänger verwaisten Umweltpolitik will Sheinbaum neue Wege gehen. Denn mit Rekordhitze und immer längeren Dürren steckt Mexiko im Würgegriff des Klimawandels. Sie werde die Gesetzgebung zur Wassernutzung reformieren, damit die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung Vorrang vor den Konzessionen der Industrie bekomme, versprach sie.

Zudem will sie Mexiko durch den massiven Ausbau erneuerbarer Energien zu einem Vorreiter beim Kampf gegen den Klimawandel machen. Dafür müsste sie jedoch den Machtkampf mit der mächtigen, von López Obrador mit Milliardensummen geförderten staatlichen Erdölindustrie wagen. Beobachter bezweifeln das.

Eine 180-Grad-Wende wird es dagegen in der Aussenpolitik geben. Nachdem López Obrador sich auf sporadische Besuche in den USA beschränkt hat, dürfte Sheinbaum Mexiko zurück auf die internationale Bühne führen, vor allem in der Klimapolitik. Ein besonderes Augenmerk wird sie zudem auf die Kooperation mit den USA legen. Bei der Bekämpfung des Drogenhandels und der Migration ist man aufeinander angewiesen.


Kommentar

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Werner J. Marti

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