Sonntag, September 8

Winterferien werden für Karo und Risto zur Entscheidungsschlacht. Terhi Kokkonen inszeniert kompromisslos das Kammerspiel einer gescheiterten Ehe.

Der Eheeskalationsliteratur verdanken wir einige der eindrücklichsten Kunstwerke: Albees «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?», Bergmans «Szenen einer Ehe», auch Ibsens «Nora» könnte man hinzuzählen. Ein Wort gibt das andere, unaufhaltsam schaukelt sich die Geschichte hoch, es kommt zu Gehässigkeiten und Gewaltakten. Bei der Finnin Terhi Kokkonen, geboren 1974, eskaliert die Lage allerdings weniger durch Dialoge als durch Erinnerungen, Szenerien, Verhaltensweisen.

Im Grunde fängt Kokkonens Buch sogar mit der höchsten Stufe der Eskalation an, so als hätte sie sich nach der Hollywood-Maxime gerichtet: «Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern.» In einer Art Prolog wird schon alles verraten, das erhöht aber nur die Neugier der Leser. Eine Frau hat ihren Mann getötet. Malerisch-dramatisch liegt er vor ihr im blutbespritzten Schnee. Wie kam es dazu?

Karo und Risto machen Winterferien im finnischen Norden und suchen frische Luft für ihre Ehe und Entspannung von ihrer Arbeit. Risto ist Inhaber eines florierenden Softwareunternehmens, Karo hat eine PR-Firma. Auf eisglatter Strasse kommt es zu einem schweren Unfall, aber sie haben Glück im Unglück. Risto kommt mit einem verstauchten Halswirbel davon, Karo mit einer angeknacksten Nase.

Ein bisschen Licht im Herzen

Auf Rat des örtlichen Hotelarztes bleiben sie noch eine Nacht. Aus einer Nacht wird eine Woche. Risto, anfangs noch nervlich angeschlagen, fühlt sich ganz wohl hier oben. Karo schleppt psychische Probleme mit sich herum und will schnellstens weg. Die abgeschiedene Schneelandschaft, «wie mit weisser Beize überpinselt, zweidimensional und öde», wirkt wie eine Insel, auf der der eine sich geborgen und der andere sich ein- beziehungsweise ausgesperrt fühlt.

Karo fehlt es an Durchsetzungskraft. Schon als Studentin, schwanger von einem verheirateten Professor, verzichtete sie halbherzig auf ihre Rechte. Entstehende Angstzustände verschweigt sie zunächst, geht dann aber doch zu einem Therapeuten, der ihr Antidepressiva verschreibt, «gern bis ans Lebensende». Immerhin besteht sie darauf, dass der Hotelarzt ihr die Nase richtet. Diesen überkommt dabei eine eigenartige Wollust. Er selbst wiederum muss seiner Chefin regelmässig zu Willen sein.

Risto freilich hat auch sein Päckchen zu tragen. Die Mutter ist dem Alkohol verfallen, der Vater beging Selbstmord. Er ist ein launischer Typ mit esoterischer Ader, sein empathischer Meditationscoach verschaffte ihm endlich «Licht im Herzen». Damit baggert er die Rezeptionistin an, die ihn anfangs noch genervt hat. Hinzu kommt, dass er Karo manipuliert und desorientiert. Es verschwinden nämlich Tassen oder Socken, die Karo, an sich selbst zweifelnd, sucht und die er offenbar versteckt hat. Und sie hat ein am Unfall beteiligtes Auto gesehen, was Risto ihr auszureden versucht. Nach einem berühmten Film von 1940 wird eine derartige Manipulation Gaslighting genannt.

Ohne Illusionen

«Wer hat Angst, sein Leben ohne Illusionen zu leben?» – so interpretierte Albee den seltsamen Titel seines weltberühmten Theaterstücks. In Kokkonens Buch scheint das Problem eher darin zu liegen, dass diese Menschen hier überhaupt keine Illusionen oder Träume haben. Dass Liebe und Hass die wichtigsten Antriebskräfte der Literatur sind, wird auch hier wieder deutlich. Manchmal kann sich beides verbinden. Mit Hassliebe, die ja sogar eine triste Lebenslösung sein kann, gibt sich zumindest Karo nicht zufrieden.

Bei Albee und Bergman kommt es beinahe zu einer Art Happy End. Kokkonen aber ist kompromissloser, ihre weibliche Hauptfigur Karo bringt es zu Ende. Damit wird das Opfer zum Täter. Terhi Kokkonen verzichtet dabei auf moralische Urteile, Haupt- und Nebenpersonen sind raffiniert und skurril miteinander verflochten, und identifizieren kann man sich mit keiner von ihnen. Dies alles hebt ihr Buch erfrischend aus dem literarischen Mainstream hervor.

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Roman. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin, Berlin 2024. 189 S., Fr. 32.90.

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