Mittwoch, Januar 15

Philippe Aghion hat das ökonomische Verständnis von Wirtschaftswachstum, Innovation und dem Aufstieg und Niedergang von Firmen entscheidend mitgeprägt. Der lange Zeit in Harvard tätige Franzose glaubt, dass Europa sich verändern muss, wenn es den Anschluss gegenüber den USA nicht verlieren will.

Der CEO des norwegischen Staatsfonds will vermehrt in den USA und nicht mehr in Europa investieren. Die Europäer seien zu faul und wollten nicht mehr hart arbeiten, so begründet dies Nicolai Tangen. Was sagen Sie dazu, Herr Aghion?

Herr Tangen hat in vieler Hinsicht absolut recht. Europa reguliert zu viel und zu starr, ist im Hightech-Sektor zu wenig präsent und macht zu selten wirklich bahnbrechende Innovationen.

Wie kommt das?

Europa ist ein Gigant im Regulieren. Europas Politiker haben dabei keine schlechten Absichten. Sie versuchen einfach mit ökonomischen Regulierungen die politische Integration voranzutreiben, Europas Nationalstaaten stärker zu einem Gebilde zu vereinen.

Sie denken an die Währungsunion?

Die Währungsunion wurde als ein Instrument der politischen Integration beschlossen. Dann wollte man sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten nicht zu viel ausgeben. Man hat das mit zu vielen zu strikten Regeln versucht. Das hat nicht funktioniert. Es gibt die 3-Prozent-Defizit-Obergrenze, die nicht unterscheidet, ob ein Staat einfach Geld ausgeben oder in die Zukunft investieren will. Und es gibt eine Wettbewerbspolitik, die zu strikt ist, indem sie alle Staatshilfen verbietet. Besser würde sie es den Staaten erlauben, industriepolitisch aktiv zu sein, aber dafür sorgen, dass dies wettbewerbsfreundlich geschieht.

Wollen Sie mir wirklich sagen, die EU gerate gegenüber den USA ins Hintertreffen, weil die EU-Staaten zu wenig Geld ausgeben könnten?

Die USA machen wie China eine sehr bewusste Industriepolitik. Das grosse Risiko besteht darin, dass Europa abfällt.

Europas Produktivität ist seit Ende der 1990er Jahre langsamer gewachsen als die amerikanische.

Europa hat zumindest teilweise die IT-Revolution verpasst. Wieso haben sie das? Amerika investiert viel mehr in Hightech-Spitzentechnologie als Europa. Die beiden geben für die Forschung ähnlich viel aus, aber die USA fokussieren viel stärker auf Hightech und bahnbrechende Breakthrough-Innovationen, die ihre führenden Tech-Firmen gross gemacht haben.

Wie innovativ ist Europa?

Früher veränderten Europas Denker die Welt, die Unternehmen des Kontinents gehörten zu den besten der Welt. Diese Gewissheit ist heute dahin, doch mangelt es Europa wirklich an klugen Köpfen und guten Ideen?

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Viele fundamentale Erfindungen stammten ursprünglich aus dem militärischen Umfeld.

Die Amerikaner haben in den 1950er Jahren die Darpa, die Defense Advanced Research Projects Agency, gegründet. Das ist eine sehr moderne Form der Industriepolitik. Das Geld kommt vom Zentralstaat, es gibt Teamleader, und die organisieren dann harte Wettbewerbe, um eine Aufgabe zu lösen. So haben sie den Wettlauf im All mit der Sowjetunion gewonnen. Dann haben sie eine gleiche Forschungsorganisation für Energie und kürzlich eine für Biotech geschaffen. Letztere hat die Entwicklung der modernen Corona-Impfstoffe finanziert. Das Geheimnis des Erfolgs der US-Industriepolitik ist, dass sie so wettbewerbsfreundlich aufgesetzt ist. Das will und schafft Europa bis jetzt nicht.

Die EU hat doch auch Forschungsprogramme und eine Innovationsförderung.

Aber keine Darpa. Die europäische Forschung ist weiter weg von der Wirtschaft, weniger kompetitiv organisiert, und sie finanziert weniger bahnbrechende Innovationsdurchbrüche. In den USA gibt es ein sehr entwickeltes Innovations-Ökosystem, das Europa fehlt. Und es ist in den Vereinigten Staaten mehr Risikokapital erhältlich, das bereit ist, in echte Innovation zu investieren. Alle Stufen des Innovationsprozesses sind in den USA besser entwickelt als bei uns. Wenn wir uns nicht mit Mediokrität zufriedengeben wollen, müssen wir das akzeptieren und daraus Konsequenzen ziehen.

Was schlagen Sie denn vor?

Es braucht eine bessere Finanzierung von Grundlagenforschung und Innovations-Ökosysteme im Umfeld der Universitäten. Notwendig wären mehr Risikokapital und ein entwickelter Kapitalmarkt dafür, damit die Startup-Innovationen auch in Europa verwirklicht werden. Es brauchte eine Koalition der willigen europäischen Länder, die wirklich Hightech fördern wollen. Die Schweiz sollte dabei sein, Grossbritannien mit seinen Spitzenuniversitäten auch. Alle, die wirklich ambitioniert sind, aber nicht alle 27 EU-Länder, die sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen.

Entschuldigung, aber das hört sich sehr französisch an. Ein riesiges internationales Projekt, das von oben nach unten Innovation identifiziert und fördert.

Nein. Es muss eine Partnerschaft zwischen Regierungen und dem privaten Sektor werden. Es braucht wie bei der amerikanischen Darpa einen Top-down-Teil, aber auch einen von unten nach oben. Wer in grüner Technologie und in künstlicher Intelligenz führend sein will, kann nicht nur auf pures Laisser-faire setzen.

Wirklich nicht?

Die USA machen es auch nicht, und die sind deswegen keine Etatisten.

Sie bewundern die Hightech-Industrie in den USA. Aber diese Superfirmen mit ihren Supergewinnen leben doch stark von Netzwerkeffekten und beschäftigen nur einen sehr kleinen Teil der Wirtschaft. Liegt im Fokus auf sie wirklich der Schlüssel zu mehr Wachstum in Europa?

Hightech-Firmen haben den Wettbewerb in den USA stark angekurbelt und die IT-Revolution auf ein neues Niveau gehoben. Das Problem ist, dass diese Firmen, sobald sie richtig gross geworden sind, begonnen haben, Konkurrenz durch neue Innovatoren zu behindern und den Wettbewerb zu bremsen. Ich bin für eine effiziente Industriepolitik, aber ich bin vor allem für eine starke Wettbewerbspolitik. Wobei man davon wegkommen sollte, sich statisch auf Marktanteile zu fixieren. Es braucht vielmehr einen dynamischeren Ansatz. Die Wettbewerbshüter sollten sich fragen, was künftig passieren wird, wenn sie eine Fusion zulassen, und was sie allenfalls für Bedingungen verfügen müssen, damit der Wettbewerb und freie Eintritt von Innovatoren nicht entmutigt wird.

Sie sind ein Anhänger von Schumpeters schöpferischer Zerstörung von alten durch neue Firmen . . .

Absolut, die braucht es.

. . . aber Sie glauben nicht an Hayeks Warnung vor der staatlichen Anmassung von Wissen?

Ich warne immer wieder davor, dass der Staat durch Partikularinteressen vereinnahmt werden kann. Es braucht eine aktive Zivilgesellschaft, um den Staat zu überwachen. Man braucht das Dreieck aus Firmen, Staat und Zivilgesellschaft mitsamt den Medien.

Aber nochmals zur Anmassung von Wissen: Wieso soll der Staat wissen, wo und was die vielversprechende Innovation ist?

Bei manchen Dingen ist klar, wo das Problem liegt. Dort ist es wichtig, dass die Lösung direkt, aber so wettbewerbsorientiert und effizient organisiert wird, wie dies die Darpa getan hat oder wie es in den USA mit den Impfstoffen geschah. Bei vielen anderen Fragen braucht es in der Tat einen sektorübergreifenden, technologieneutralen Ansatz mit spitzenmässiger Grundlagenforschung. In Frankreich haben wir Exzellenzlaboratorien finanziert. Das hat funktioniert und verschiedene Sektoren positiv inspiriert.

Was würden Sie denn in Europa forcieren wollen, wenn Sie entscheiden könnten?

Es geht nicht um das Forcieren von etwas, es geht um das Setzen von Anreizen. Unternehmen machen beispielsweise spontan keine grünen Innovationen. Meine Forschung zeigt: Firmen, die in der Vergangenheit bei dreckigen Technologien innovativ waren, werden diese Technologien auch sehr wahrscheinlich weiter vorantreiben. Der Staat muss deshalb den technologischen Fortschritt lenken. Es gibt dazu die CO2-Steuer, aber für sich allein müsste diese viel zu hoch sein, um Klimaneutralität zu erreichen. Die Bevölkerung würde das nie akzeptieren, wie man an den Protesten der Gelbwesten in Frankreich gesehen hat. Und es wäre auch nicht ökonomisch effizient. Es braucht beides, CO2-Steuern und eine grüne Industriepolitik.

Das läuft doch oft bloss darauf hinaus, dass mit Geldern der Steuerzahler finanzierte Subventionen verschleudert werden.

Europa braucht nicht mehr Mittel, sondern eine auf bahnbrechende Innovationen fokussierte, effizientere Nutzung der öffentlichen Gelder. In der Industriepolitik, aber auch in der Forschung.

Star der neuen Wachstumstheorie

pfi. Der in Paris ausgebildete Mathematiker und Wirtschaftswissenschafter Philippe Aghion ist in den USA zu einem der weltweit führenden Ökonomen geworden. Von 2000 bis 2020 war er Professor an der Universität Harvard, wo er 1987 auch die Dissertation für seinen Ph. D. verteidigt hatte. Er hat die endogene Wachstumstheorie geprägt, indem er in die makroökonomischen Modelle Firmen integrierte, die ganz nach dem Konzept der Schumpeterschen Zerstörung mit Innovationen Marktanteile erobern oder von Innovatoren verdrängt und zerstört werden.

Aghion wurde 1956 als Sohn der Gründerin der Modemarke Chloé in Paris geboren und ist inzwischen wieder nach Europa zurückgekehrt. Er forscht weiter zu Innovation und lehrt heute am Insead, am Collège de France und an der London School of Economics. 2021 publizierte er das Buch «The Power of Creative Destruction. Economic Upheaval and the Wealth of Nations». Aghion steht dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron nahe, hat diesen verschiedentlich beraten und setzt sich für europäische Spitzenforschung ein. Im Frühsommer lehrte er im Rahmen einer Gastprofessur für Innovationsökonomie am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum (WWZ) der Universität Basel. Das vorliegende Interview kam am Rande seines Vortrags zur Kraft der Innovation und zur Zukunft des Kapitalismus zustande, den Aghion in der Basler «Lectures Series on Innovation in the Global Economy» hielt.

Manche sagen, man könne nicht beides haben, eine wettbewerbs- und exzellenzorientierte Gesellschaft wie in den USA und ein soziales Sicherheitsnetz und Umverteilung wie in Europa.

Die USA sind innovativer als Europa, aber Europa ist inklusiver als die USA, das stimmt. Ich bin überzeugt, dass man beides haben kann. Ein gutes Bildungssystem schafft mehr Chancengleichheit sowie mehr Innovation und Wachstum. Eine moderne Wettbewerbspolitik erlaubt mehr neue Markteintritte, führt zu schöpferischer Zerstörung und damit auch zu mehr sozialer Mobilität. Eine gute Politik sorgt für beides, mehr Innovation und mehr Inklusion.

Was heisst das auf dem Arbeitsmarkt? Was ist, wenn die Europäer tatsächlich immer weniger arbeiten wollen?

Schauen Sie die Arbeitslosenunterstützung in Dänemark an. Zwei Jahre lang erhalten Sie 90 Prozent Ihres vorherigen Salärs. Das ist inklusiv und verhindert, dass Leute krank werden, wenn sie den Job verlieren. Man schult sie und schlägt ihnen neue Arbeitsstellen vor. Wenn Sie mehr als zweimal ablehnen, verlieren Sie Ihre Ansprüche. Auch das fördert den Strukturwandel und Innovation. Alle brauchen harte Anreize: Firmen, der Staat, die Bürger.

Sie haben den französischen Präsidenten Macron beraten. Aber es scheint, als wolle er nicht auf Sie hören.

Ich habe die Steuerreform unterstützt, war für eine einheitliche Einkommenssteuer und habe mich für die Arbeitsmarktreform eingesetzt, die Entlassungen erleichterte. Gleichzeitig glaube ich an Inklusion, für die auch Macron eingetreten ist. Macron hat viel wirtschaftlich Vernünftiges getan. Allerdings hätte er sich stärker dafür einsetzen können, dass dies einvernehmlich geschieht.

In Frankreich sind doch die meisten erfolgreichen Konzerne staatlich dominiert, es fehlt an einem innovativen Privatsektor.

Es stimmt, Frankreich hat in den meisten Sektoren an Wettbewerbsfähigkeit verloren, teilweise dramatisch. Weltweit wettbewerbsfähig sind bloss noch der Luxusgütersektor, der Flugzeugbau, etwas Raumfahrt und die Nukleartechnologie. Wieso haben wir die anderen Sektoren verloren? Als der Euro eingeführt wurde, machte Deutschland die Hartz-Reformen, die viele Menschen zurück in den Arbeitsmarktsektor zwangen und einen Niedriglohnsektor schufen. Wir taten das Gegenteil, wir führten die 35-Stunden-Woche ein. Die Arbeitskosten stiegen, und die Firmen begannen Tätigkeiten in andere Länder auszulagern. Das Elsass war einst ein sehr dynamisches industrielles Kraftzentrum. Damit ist es jetzt vorbei. Macron hat versucht, das wieder umzukehren. Aber es gibt noch viel zu tun. Die Franzosen müssen wieder mehr arbeiten und sich die Revolution mit der künstlichen Intelligenz zunutze machen.

Sie sagen, Europa habe die IT-Revolution verschlafen. Wird es auch die KI-Revolution verpassen?

Ich hoffe nicht. Ich habe mit Kollegen zusammen einen Bericht für Macron geschrieben, der zeigt, dass KI grosses Potenzial hat. KI macht die Firmen produktiver und damit wettbewerbsfähiger. Dadurch erhalten sie einen grösseren Markt und können mehr wachsen. Wir denken, dass 5 Prozent aller Arbeitsplätze wegen der KI verschwinden werden, gleichzeitig entstehen zahlreiche neue Stellen. Darüber hinaus werden sich viele Arbeitsplätze verändern und neu definieren müssen. Aber wir glauben nicht, dass es zu massiven Stellenverlusten kommen wird. Die langweiligen Teile der Arbeit wird KI übernehmen, und wir werden uns auf das Kreativere konzentrieren können.

KI wird Sie als Forscher nicht ersetzen?

Vielleicht irre ich mich. Aber wir Menschen können Paradigmenwechsel vollziehen. KI kann das nicht. Menschen haben eine Intuition, ich glaube nicht, dass KI das hat. KI ist ein Instrument, bei dem wir sicherstellen müssen, dass es für das Gute eingesetzt wird.

Und wie soll sich die europäische Wirtschaft in Zeiten von KI behaupten?

Künstliche Intelligenz braucht Computerleistung und Daten. Daten müssen einfach verfügbar sein, damit die Wirtschaft im KI-Zeitalter erfolgreich sein kann. Wir sind für Open Data und eine effiziente, aber nicht zu bürokratische Regulierung des Datenschutzes. Es braucht Offenheit und Wettbewerb. KI wird die Forschung beschleunigen. KI muss daher rasch im Bildungssystem integriert werden.

Die USA versuchen gerade im Systemwettbewerb mit China die Diffusion von technologischem Know-how mit Exportverboten und Ähnlichem zu verhindern. Kann man die Diffusion von Wissen stoppen?

Abgesehen von militärischen Fragen denke ich nicht, dass das eine gute Idee ist. China ist der WTO beigetreten und hat sich dann nicht an die Regeln gehalten, das stimmt. Es braucht Regeln, an die sich alle halten, auch die Chinesen. Nicht nur dem Buchstaben nach. Aber abgesehen davon sollte man Wissen teilen. Wir brauchen die Chinesen für die grüne Technologie.

Stattdessen gibt es nun Handelskriege und eine Entkoppelung.

Sich zu sehr auf Handelskriege einzulassen, ist immer gefährlich. Die Länder, auf die sie ihre protektionistischen Massnahmen richten, werden Vergeltung üben. China ist ein phantastischer Exportmarkt für Firmen, die Innovationen schaffen wollen. Wenn sie diesen Markt verlieren, werden sie weniger innovativ und damit weniger wettbewerbsfähig. Statt sich mit protektionistischen Massnahmen zu schützen zu versuchen, sollte man zusehen, dass man der Innovativste bleibt. Das geschieht am besten über den offenen Wettbewerb.

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