Vor dreihundert Jahren kam er in Königsberg zur Welt und hat seine Geburtsstadt sein Leben lang kaum verlassen. Trotzdem war Immanuel Kant ein Weltbürger.
Die Herkunft prägt die Menschen, auch wenn sie manchmal nicht viel über sie aussagt. Viele europäische Geistesgrössen der Neuzeit stammen aus der gebildeten Mittel- oder Oberschicht, in Deutschland häufig aus evangelischen Pfarrhäusern. Immanuel Kant nicht. Er wird am 24. April 1724 als viertes Kind des Sattlermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina in Königsberg geboren. Nach ihm kommen in der Familie noch weitere vier Kinder zur Welt.
Im väterlichen Handwerksbetrieb lernt Kant eine Welt kennen, die den gebildeten Schichten fremd ist. Seine reiche Welterfahrung nimmt hier ihren Anfang. Bürgerliche Tugenden wie Disziplin und Fleiss werden für ihn so selbstverständlich, dass er ein gewaltiges Lehrpensum und eine immense Forschungsarbeit bewältigen und achtzig Jahre alt werden wird, obwohl er zeitlebens von schwacher Gesundheit ist. Nach seinem Tod hinterlässt er ein Vermögen, das mehr als 25 seiner Jahresgehälter entspricht.
Darin zeigt sich eine weitere bürgerliche Tugend: mit Grosszügigkeit gepaarte Sparsamkeit. Diese Tugenden genügen freilich nicht, um zu einem der bedeutendsten Philosophen des Abendlandes zu werden, vielleicht sogar einem der wichtigsten Denker der Welt: Im «Schrein der Vier Weisen» im Tempelgarten der Philosophie in Tokio werden neben Konfuzius und Buddha auch zwei westliche Denker verehrt. Der eine ist Sokrates, der andere ist weder Descartes noch Hegel, sondern Kant.
Immanuel Kant erfährt in seiner Familie Geborgenheit und die liebevolle Fürsorge, die ihm zu Selbst- und Weltvertrauen verhilft. Hinzu kommt eine überragende Begabung. Von Freunden der Familie gefördert, wechselt er schon mit acht Jahren ins Gymnasium, das Collegium Fridericianum. Es ist eine der besten höheren Schulen Preussens, die allerdings wegen ihrer religiösen Strenge als «Pietisten-Herberge» verrufen ist.
In den meisten Jahren ist Kant Klassenbester. Er erwirbt gründliche Kenntnisse der Theologie, dazu lernt er Griechisch, Hebräisch und Französisch und natürlich Latein. Nach dem Abitur, das er als Sechzehnjähriger besteht, entscheidet er sich, Philosophie zu studieren. Er geht an seine Heimatuniversität, wird nach dem Studium mehrere Jahre Privatlehrer bei Familien in der näheren Umgebung und kehrt dann in seine Vaterstadt zurück.
Ökologisches Weltbürgertum
Über Königsberg und dessen engere Umgebung kommt Kant zeitlebens nie hinaus. Obwohl er die geistigen Zentren Deutschlands wie Berlin, Jena und Weimar und die europäischen Metropolen wie London, Paris, Rom oder St. Petersburg nie besucht, wird er zum Vorbild eines Kosmopoliten, noch für die heutige Zeit. Zum Inbegriff eines Menschen, der politische, ethnische, sprachliche und kulturelle Grenzen zu überwinden vermag.
Dafür ist es nicht nötig, zu reisen. Wohl aber muss man die einzige Gier pflegen, die kein Laster ist: die Neugier. Mit ihrer Hilfe kann man den eigenen Horizont erweitern und lernt das zunächst Fremde in seinem Eigenwert zu schätzen. So entwickelt sich Kant, obwohl er sehr ortsgebunden bleibt, zum Gegenteil eines beschränkten Provinzlers.
Knapp dreissigjährig bewirbt sich Kant um einen Lehrstuhl an der Universität Königsberg, zunächst erfolglos. Er arbeitet als Bibliothekar in der königlichen Schlossbibliothek, schreibt Aufsätze und Abhandlungen und wird 1770, im Alter von sechsundvierzig Jahren, Professor in Königsberg. Einen Ruf an die damals berühmte Universität Halle lehnt er ab, wird zweimal als Rektor der Universität gewählt und arbeitet fast bis zu seinem Tod am 12. Februar 1804.
Vor allem aber wird er ein Weltbürger, dem die Überbewertung der eigenen Kultur, jeder Eurozentrismus fremd ist. Ein Beispiel: Die Auszeichnung, die kultivierteste Zivilisation der Welt zu sein, spricht er nicht einem europäischen oder nordamerikanischen Land zu, sondern China. Dies sei, sagt er, «das ohne Zweifel kultivierteste Reich in der ganzen Welt».
Kant praktiziert sein Weltbürgertum in einer Art, die heute, in Zeiten des Umwelt- und Klimaschutzes, höchst wünschenswert erscheint: Vielreiserei ist ihm verhasst, also lebt er einen ökologischen Kosmopolitismus. Statt von Reiselust ist Kant von einer fast unendlichen Wissbegier getrieben: Er macht sich mit allem bekannt, was er über die physikalische, politische und kulturelle Welt in Erfahrung bringen kann.
Enzyklopädische Neugier
Über fast alles, was ihn beschäftigt, schreibt er auch: zum Beispiel über das Erdbeben, das 1755 Lissabon in Trümmer legte und ganz Europa erschütterte. Über die Passat- und die Monsunwinde, über die Saturnringe und die Nebelsterne (Galaxien). Er verfasst auch eine Evolutionstheorie des Sonnensystems und des gesamten Kosmos, die später als Kant-Laplacesche Theorie bekannt wird.
Unter dem Titel «Physische Geographie» hält er Vorlesungen über Mineralien, Pflanzen und Tiere sowie über die vier damals bekannten Kontinente. Weit bedeutender sind allerdings die Schriften zur Erkenntnistheorie, zu Moral, Recht und Politik, nicht zuletzt zur Religionsphilosophie, zur Theorie des Schönen, des Erhabenen und der Biologie. Mit einem Wort: Wie Kants Neugier, so ist auch Kants Œuvre von enzyklopädischer Weite.
Dafür macht sich Kant mit der einschlägigen Literatur vertraut: mithilfe von Reiseberichten, der «Berliner Wochenschrift», den «Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen» sowie den Mitteilungen der europäischen Akademien. Selbstverständlich liest er auch alle philosophischen Neuerscheinungen. Für die Lektüre von Rousseaus Erziehungsroman «Émile» soll er ein einziges Mal auf den Spaziergang verzichtet haben, der ihn jeden Tag zur genau gleichen Zeit auf dem gleichen Weg durch Königsberg führte.
Kants Leben spielte sich auf kleinem Raum ab, in einem routinierten Alltag. Aber Königsberg war im 18. Jahrhundert kein abgelegener Provinzort, sondern die wirtschaftlich aufblühende Hauptstadt von Ostpreussen. Es gab Regierungsämter, Gerichte, Gymnasien, eine Universität und einen internationalen Handelshafen, der an Grösse und Bedeutung mit dem damaligen Hamburger Hafen vergleichbar war.
Hier verkehrten Kaufleute aus Polen, Litauen und Russland, aus Dänemark, Grossbritannien und Schweden und trugen zum internationalen Flair von Königsberg bei. Kant selbst lobte die Stadt als «einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann». Er pflegte einen grossen Freundeskreis, zu dem zwei englische Kaufleute gehörten, mit denen er intensive Gespräche führte.
Die Würde der Philosophie
Eine von Kants Schriften trägt den Anspruch des Weltbürgertums schon im Titel: «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht». Darin klingt eine zweite, anspruchsvollere Bedeutung von Weltbürgertum an. Zugrunde liegt eine Unterscheidung, die Kant hinsichtlich der Wissenschaften und der Philosophie trifft.
Für beide vertritt er nämlich einen Schulbegriff und einen Weltbegriff. Der Schulbegriff bezeichnet die zweckfreie Beschäftigung mit einem Gegenstand – die Kant für durchaus ehrenhaft hält. Der Weltbegriff dagegen bezeichnet die Auseinandersetzung mit einem Thema mit Blick auf einen allen Menschen gemeinsamen Zweck. Für den Weltbegriff der Philosophie genügen originelle Einsichten allein nicht, solange sie nicht dem Gemeinwohl der Menschheit dienen. Und darin, nicht etwa in der Kunst des begrifflich präzisen Argumentierens, liegt gemäss Kant die eigentliche Würde der Philosophie.
In «weltbürgerlicher Absicht» betrieben, darf sich Geschichte nicht auf die blosse Rekonstruktion der Vergangenheit beschränken. Das wäre für Kant eine «zyklopische», also einäugige «Gelehrsamkeit», die überwunden werden muss. Und überwunden wird sie erst dort, wo sie zusätzlich zur üblichen Geschichtswissenschaft auch die philosophischen Fragen zulässt.
Kann die Geschichte einen Sinn haben?, fragt Kant. Und gibt die Antwort: Ja. Seiner Ansicht nach liegt der Sinn der Geschichte in der vollständigen Entwicklung aller menschlichen Anlagen für den Gebrauch der Vernunft. Das sei jedoch «nur in der Gattung, nicht aber im Individuum» möglich. Zu diesem Ziel wird der Mensch durch seine Natur der «ungeselligen Geselligkeit» angetrieben.
Dank dieser überwinden die Menschen nämlich den Hang zur Faulheit. Die ungesellige Geselligkeit führt die Menschen auch dazu, einen Rechtsstaat zu gründen und eine auf das Recht gegründete Koexistenz der einzelnen Staaten nebeneinander zu etablieren. Dies mündet schliesslich in einen weltbürgerlichen Zustand.
Jeder kann selbst denken
Auch in Kants vielzitiertem Begriff der Aufklärung klingt ein allen Menschen gemeinsamer, weltbürgerlicher Leitzweck an. Mit der Aufforderung «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» fordert Kant das einschlägige Selbstverständnis seiner Zeit heraus.
Nach ihrer Selbstbezeichnung als Aufklärung beziehungsweise «siècle de lumières», «enlightment» und «illuminismo» soll sie Licht ins Dunkel und Klarheit in bisher Verworrenes bringen. Dunkel, Aberglaube und Vorurteile zu überwinden und das Wissen und Können der Menschheit zu erweitern, ist damals allerdings nach verbreiteter Ansicht ein Vorgang, der theoretischer Natur ist. Zudem ist er nach der Vorstellung der damaligen Gesellschaft Aufgabe und Privileg einer wissenschaftlichen Elite.
Beidem widerspricht Kant: Bevor man theoretische Einsichten gewinnen will, muss man eine praktische, sogar moralische Leistung vollbringen, sagt er. Man muss nämlich die Courage aufbringen, sich von festen Meinungen zu lösen, von Autoritäten freizumachen und selbst zu denken. Jeder Mensch soll und kann diese Aufgabe übernehmen, ist Kant überzeugt. Unabhängig davon, ob er über einen gewöhnlichen oder einen überragenden Verstand verfügt.
Nicht nur hier zeigt Kant eine zutiefst demokratische Grundhaltung. Er weist den Dünkel der geistigen Aristokratie zurück und beruft sich auf etwas, das jedermann zukommt: den allgemein menschlichen Verstand. Gegen die verbreitete Tendenz, für negative Dinge wie ein Versagen lieber anderen, den Eltern, den Lehrern oder «der» Gesellschaft, die Schuld zu geben, findet man sich hier für etwas so Wesentliches wie das eigenständige Denken selbst verantwortlich.
Der Mensch steht wieder im Zentrum
Die berühmten drei Fragen, mit denen Kant die Aufgaben der Philosophie bestimmt, sind ebenfalls nicht vom Schulbegriff, sondern vom Weltbegriff der Philosophie geprägt. «Was kann ich wissen?», lautet die erste Frage. Verhandelt wird sie vor allem in Kants Hauptwerk, der «Kritik der reinen Vernunft».
Kant praktiziert in diesem Buch das Gegenteil der heutzutage längeren beliebten Selbstverkleinerung des Menschen durch sich selbst. Nachdem Kopernikus die Erde und den Menschen aus dem Mittelpunkt des Kosmos vertrieb, rückt Kant ihn wieder ins Zentrum. Kants sogenannte kopernikanische Revolution in der Erkenntnistheorie ist mitverantwortlich für die überwältigende Wirkung seines Hauptwerkes.
Kant zeigt zunächst, dass objektive Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von zwei Erkenntnisvermögen entsteht: der sinnlichen Wahrnehmung und dem spontanen Verstand. Für beide weist er nach, dass sogenannte apriorische Elemente nötig sind, damit empirische Erkenntnis möglich wird. Bei der Sinnlichkeit sind es die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit, beim Verstand die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien wie Ursache und Wirkung, Dasein und Nichtsein sowie Notwendigkeit und Zufälligkeit.
Auf dieser Grundlage gelingt Kant eine weitere Revolution: die der philosophischen Theologie. Er hebt nämlich alle seit Jahrhunderten entwickelten Beweise für das Dasein Gottes auf. Aber er zeigt auch, dass sich das Nichtsein Gottes ebenso wenig beweisen lässt wie seine Existenz. Nicht zuletzt führt er einen radikal neuen Gottesbegriff ein.
Gott bleibt für Kant zwar das schlechthin Höchste, wandelt sich aber von einem jenseitigen, transzendenten Gegenstand zu einem transzendentalen Ideal. Er wird zu einer unabdingbaren Bedingung der Möglichkeit von menschlicher Erkenntnis. Zum «unentbehrlichen Richtmass, um daran den Grad und die Mängel der Unvollständigkeit abzumessen». Dieses Ideal mahnt alle Naturforschung zur Bescheidenheit: Die Natur ist niemals zu Ende erforscht, was andererseits den nachfolgenden Forschergenerationen die Chance bietet, noch Neues zu entdecken.
Das verführbare Vernunftwesen
Die bekannteste Antwort auf Kants zweite Frage: «Was soll ich tun?» hat wieder einen demokratischen, zugleich kosmopolitischen, weil einem allgemeinmenschlichen Zweck dienenden Charakter. Kant beruft sich nicht auf Sondereinsichten, die nur für wenige Gebildete erreichbar wären, sondern auf das allen Menschen gemeinsame Bewusstsein für Moral. Zur Begründung führt er ein scharfsinniges Gedankenexperiment durch.
Man stelle sich vor, schreibt er, jemand würde von seinem Fürsten, also einer mächtigen Instanz, aufgefordert, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann abzugeben. Falls er diese Lüge verweigert, wird er unverzüglich an einem Galgen aufgeknüpft. Kant ist nicht so weltfremd zu glauben, die meisten von uns würden, obwohl mit der Todesstrafe bedroht, das falsche Zeugnis verweigern.
Aber selbst ein Mensch, der sich wegen seiner Familie oder wegen seines Berufs für unentbehrlich halte und deshalb lieber lügen würde, sei sich seines Moralbewusstseins sicher, hält Kant fest. Er wisse nämlich, dass das falsche Zeugnis unmoralisch sei und dass er, auch wenn es ihm schwerfalle, fähig sei, es zu verweigern.
Das einschlägige Stichwort heisst: kategorischer Imperativ. Für verführbare Vernunftwesen wie den Menschen, sagt Kant, habe die Moral den Charakter eines vernünftigen Sollens, eines Imperativs, der ohne Vorbehalt, also kategorisch gültig sei. Ohne Zweifel liegt darin eine Einsicht, hinter die man nicht zurückkann.
Der kategorische Imperativ ist nichts anderes als der Begriff der Moral unter den Bedingungen von Menschen, die nicht notwendig moralisch handeln. Weil er ohne jede Einschränkung verpflichtet, gilt er schlechthin allgemein: ausnahmslos und notwendig, weshalb in der strengsten Allgemeinheit, in der eines Gesetzes, der Massstab der Moral liegt. Daraus ergibt sich nun die bekannte Formel des kategorischen Imperativs: «Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!»
Ewiger Friede
An die Frage des Sollens schliesst sich fast nahtlos die dritte Frage an: «Was darf ich hoffen?» Lässt es sich mit der Vorstellung eines sinnvollen Weltlaufs vereinbaren, dass es im Leben allzu häufig den Bösewichten gut, den Rechtschaffenen hingegen schlecht ergeht und dass dies genau deshalb so ist, weil die Rechtschaffenen mit moralischem Handeln ihr eigenes Wohl aufs Spiel setzen.
Wäre dies das letzte Wort, so erschiene die Welt unvernünftig, sogar sinnlos. Um dem zu entgehen, stellt Kant zwei Postulate auf: Erstens nimmt er eine Instanz an, die dank ihrer Allwissenheit, Allgerechtigkeit und Allmacht für einen Ausgleich sorgt, freilich nicht schon in diesem, sondern erst in einem künftigen Leben. Zweitens geht er davon aus, dass der Mensch dieses Ausgleichs teilhaftig werden kann, weil er eine unsterbliche Seele habe. Beide Annahmen sind gemäss Kant weder objektive Erkenntnisse noch grundlose Erfindungen. Es sind vielmehr notwendige Voraussetzungen, um die Welt als sinnvoll denken zu können und am Weltlauf nicht zu verzweifeln.
Auch ein knapper Blick auf Kants Œuvre darf den philosophischen Entwurf «Zum ewigen Frieden» nicht übergehen. Mit ihm widmet zum ersten Mal in der Geschichte ein grosser Philosoph der Sehnsucht der Menschen nach Frieden eine eigene Schrift. Mit einem bei ihm seltenen Pathos erklärt Kant, «die Vernunft vom Throne der höchsten moralischen Vernunft» verdamme den Krieg und mache den Friedenszustand «zur unmittelbaren Pflicht».
Gastrecht auf der ganzen Welt
Nach dem Muster der damaligen Friedensverträge beginnt Kant mit sieben Vorüberlegungen und schliesst drei Definitivartikel an – zum Staatsrecht, zum Völkerrecht und als Innovation zu einem Weltbürgerrecht. Darauf folgt unter anderem ein «Geheimer Artikel zum ewigen Frieden», der ironischerweise die Politik auf Publizität verpflichtet und zu diesem Zweck Meinungsfreiheit fordert.
In Kants Innovation, dem Weltbürgerrecht, ist das letzte Begriffselement ernst zu nehmen: Er versteht es als Recht, das von der Menschenliebe zu unterscheiden ist. Deshalb wird es eingeschränkt, was mit Blick auf die moderne Migrationspolitik von Bedeutung sein könnte: Es ist kein Gastrecht, sondern ein Besuchsrecht.
Jeder Mensch darf überall vollkommen gefahrlos anklopfen, hat aber kein Recht auf Einlass. Das bedeutet nicht, dass man Fremde nicht aufnehmen sollte, im Gegenteil. Nur ist dies kein Rechtsakt mehr, sondern ein Akt der Menschenliebe. Die Menschenliebe kann und soll über das hinausgehen, zu dem das Recht uns verpflichtet. Dafür aber sind nichtstaatliche Institutionen zuständig.
Otfried Höffe leitet an der Universität Tübingen das Forschungszentrum für politische Philosophie. Im Verlagshaus Römerweg erschien von ihm kürzlich «Der Weltbürger aus Königsberg. Immanuel Kant heute. Person und Werk».