Samstag, Oktober 19

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 dachte man sich Georgien auf dem sicheren Pfad nach Europa. Nun aber ist das Land in den Sumpf der Vergangenheit zurückgefallen. Ein einzelner Oligarch hat das Sagen – und viele unterwerfen sich ihm, schreibt der Schriftsteller Zaza Burchuladze.

Der 26. Oktober 2024 ist ein schicksalhaftes Datum für Georgien. An diesem Tag finden in dem Land Parlamentswahlen statt, und an diesem Tag wird sich entscheiden, ob sich das Land in Richtung Europa oder in Richtung Russland bewegt, das bereits zwanzig Prozent des Staatsgebiets besetzt hält.

Seit über dreissig Jahren versucht Georgien, sich aus dem Griff der sowjetischen Vergangenheit zu befreien und sich Europa anzunähern. Aber leider gelingt das nicht.

Die derzeitige georgische Regierung steuert das Land rasch auf Russland zu, das nunmehr in der Lage ist, ganz Georgien ohne Krieg zu erobern – durch finanziellen Einfluss und mithilfe der georgischen Regierung und ihres Patrons Bidsina Iwanischwili.

Iwanischwili ist seit zwölf Jahren der inoffizielle Herrscher des Landes und hat sich noch immer nicht in ein politisches Subjekt verwandelt, vielmehr bleibt er ein Schattenmann – so wie er es von Anfang an war. Die Steuerung der Vorgänge mit unsichtbaren Tentakeln zeugt von Mafia-Stil. Aber auch Mafiosi haben einen gewissen Ehrenkodex. Auch sie übernehmen die Verantwortung für ihre Entscheidungen.

Ganz ohne Illusion

Iwanischwili jedoch schafft es, sich durch Tricks der Verantwortung zu entziehen. Und nun hat diese verantwortungslose Figur beschlossen, noch einen weiteren Trick – vielleicht den wichtigsten – anzuwenden. Wie ein Zauberer, der ein Kaninchen oder einen Elefanten verschwinden lässt. Manche haben sogar ganze Flugzeuge scheinbar in Luft aufgelöst. Und je grösser das Objekt, desto grösser das Erstaunen des Publikums. Aber das sind alles nur Tricks, geschickte Manöver, welche die Illusion von etwas Übernatürlichem erzeugen. Der Schirmherr des «Georgischen Traums» dagegen lässt ein ganzes Land verschwinden, ganz ohne Illusion.

Dieser Trick ist so gewaltig, dass man ihn einfach nicht übersehen kann. Und wenn Sie immer noch nicht sehen können oder wollen, wie Georgien verschwindet, dann sind Sie entweder blind, oder Sie stellen sich absichtlich blind. Es gibt keine dritte Möglichkeit.

Worin besteht der «Georgische Traum»?

Der «Georgische Traum» ist eine politische Partei, die 2012 von Iwanischwili gegründet wurde. Es handelt sich jedoch nicht um eine Partei im herkömmlichen Sinne des Wortes, sondern um eine Truppe, die einem einzelnen Führer dient, so wie ein dressierter Hund seinem Besitzer.

Iwanischwili erklärt die USA und die EU zu Feinden und behauptet, sie würden sich in grober Weise in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischen. Georgien ist ein kleines Land, das lange Zeit Teil der Sowjetunion war. Doch gerade mit westlicher Hilfe haben wir unsere historische Tradition erhalten, die georgische Armee gestärkt, die Bildungsprogramme verbessert, die Landwirtschaft entwickelt, Strassen gebaut und Brücken errichtet. Wenn es die USA und die EU nicht gäbe, hätte Russland Georgien schon längst geschluckt.

Das Oberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, deklariert seit Jahren offen: «Ich diene nicht Russland, sondern Wladimir Putin persönlich.» Jedes Mitglied des «Georgischen Traums» bestätigt in seinem Tun dasselbe: «Ich diene nicht Georgien, sondern demjenigen, der beschlossen hat, Georgien auszulöschen.» Und gemeinsam dienen sie alle Putin.

In diesem Sommer gab es in Tbilissi mehrere grosse Demonstrationen, bei denen Zehntausende von Menschen auf die Strasse gingen, um die Regierung zu kritisieren. Die Zahl der Teilnehmer erreichte bis zu zweihunderttausend, die meisten von ihnen waren junge Menschen. Wir alle kennen die Filme mit Bruce Lee oder Bruce Willis. Und wir alle wissen, dass, sobald einer der beiden Bruce auftaucht, das Schicksal des Bösewichts besiegelt ist. Bruce wird den Feind am Ende so sicher besiegen, wie der heilige Georg den Drachen bezwingt. Aber wir wissen auch, dass der Drache nichts von dieser Tatsache weiss. So wird der Film zur Chronik seiner Niederlage. So auch jetzt. Sobald die jungen Leute auf den Strassen von Tbilissi auftauchten, war das Ende des «Georgischen Traums» besiegelt.

Früchte der Freiheit

Der Film steht derzeit am Anfang. Wir wissen, dass der Drache versuchen wird, die Mädchen und Jungs mit kaltem Wasser, Gas, Schlagstöcken und Gummigeschossen niederzuringen. Vielleicht bricht er ihnen sogar die Nase und tritt sie, wenn sie am Boden liegen. Er wird versuchen, sie in Verruf zu bringen, ihnen Angst einzujagen oder sie zu verführen und zu erpressen. Das gehört zur Rolle des Monsters. Die Stars des Films sind jedoch die jungen Menschen, deren Niederlage nach den Regeln des Genres nicht vorgesehen ist.

Wir alle hatten glückliche Momente im Leben, aber der Auftritt dieser jungen Menschen hat alles in den Schatten gestellt. Ich beobachte sie und kann nicht verstehen, woher sie kommen, so sorglos, so hingebungsvoll und so leidenschaftlich. Sie haben eine Unbekümmertheit, die uns nie eigen war. Sind sie wirklich unsere Kinder? Wie stand es um uns in ihrem Alter? Wann hatten wir so mutige Herzen, so offene Gedanken und so klare Blicke? Was könnte es Schöneres für uns geben als das?

Es ist dies das Ergebnis der Freiheit. Diese Menschen wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren. Viele sind erst vor kurzem erwachsen geworden. Sie haben nicht das Gift der Sowjetära geatmet. Sie sind in einer Welt gross geworden, in der Demokratie und Menschenrechte einen hohen Stellenwert hatten.

Doch Bidsina Iwanischwili ist entschlossen, ihnen die Freiheit zu nehmen.

Wer ist Bidsina Iwanischwili? Seit Jahren hat er kein offizielles Amt mehr inne, und doch ist er der mächtigste Mann im Land. Wir erleben das verzerrteste Modell von Regieren, das man sich vorstellen kann: Jemand kann massgeblich Einfluss auf politische Prozesse nehmen, ohne irgendeine Verantwortung zu tragen.

Bidsina Iwanischwili ist ein in Georgien geborener russischer Oligarch, der in den neunziger Jahren in Russland Milliarden angehäuft hat. Dies war die chaotischste und brutalste Zeit in den postsowjetischen Ländern, insbesondere in Russland, wo es schon damals wie heute noch immer nicht möglich war, nennenswerten Reichtum, geschweige denn riesige Vermögen anzuhäufen, ohne mit den Geheimdiensten oder der kriminellen Unterwelt gute Beziehungen zu pflegen. In Russland sind die beiden Welten jedoch kaum voneinander zu unterscheiden.

Im Fall von Bidsina Iwanischwili war die ethnische Herkunft nie ein entscheidender Faktor. Er hat seine persönlichen Interessen immer über jene des Landes gestellt. Josef Stalin, der ethnisch Georgier war, sagte bekanntlich: «Ich bin kein Georgier, ich bin ein Russe georgischer Abstammung.» Solche Menschen haben keine Heimat.

Bidsina Iwanischwili hat ganz Georgien in ein Privatanwesen verwandelt. Er hat Residenzen in den schönsten Ecken des Landes errichtet. Sein Haus im Bergort Abastumani hat er mit einem künstlichen Felsen umgeben und es so in eine Festung verwandelt. Bei öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen tritt er in einer kugelsicheren Kapsel auf, wie eine Figur aus einem Science-Fiction-Film. Arbeiter verbringen den ganzen Tag damit, diese Kapsel aufzubauen, damit Iwanischwili sich mit einer fünfminütigen Rede an das Volk wenden kann. Die Leute, die ihm zujubeln sollen, werden unter Androhung des Verlusts ihres Arbeitsplatzes zur Teilnahme gezwungen.

Krieg wie in der Ukraine

Aber Iwanischwili ist ein Feigling. Von seinem Wohnsitz aus kontrolliert er alle und alles. Er ist ein Kontrollfreak. Jeder Staatsbeamte wird mit seiner Zustimmung ernannt. Der Kulturminister, der Polizeichef und die georgischen Botschafter in den Ländern der Welt – alle brauchen sein Plazet. Der gesamte Staatsapparat und die Polizei sind ihm zu Diensten. Und auch die georgische Justiz unterwirft sich ihm, wobei bereits mehrere Richter samt Familie von den USA mit Sanktionen bedacht wurden.

Solchen Sanktionen unterliegen auch viele Mitglieder der Partei «Georgischer Traum». Glaubt man dem Weissen Haus, sollen es noch mehr werden. Wenn das so weitergeht, wird bald halb Georgien von Sanktionen betroffen sein. Iwanischwili will das, und Putin auch. Der Kreml wird Georgien schlucken wie ein Frosch eine Fliege.

In der Zwischenzeit hat sich der «Georgische Traum» in einen repressiven Apparat verwandelt, der jeden angreift, verstümmelt, verhaftet und erpresst, der ihn kritisiert. Wer sich gegen die Regierung ausspricht, wird bis in sein Haus hinein von kriminellen Banden verfolgt und brutal zusammengeschlagen. Die Polizei hat noch keinen einzigen Täter verhaftet, obwohl viele ihrer Gesichter auf den Aufnahmen der Strassenüberwachungskameras zu erkennen sind. Stattdessen nimmt die Polizei die von Schlägertrupps verprügelten Teilnehmer der regierungskritischen Proteste fest, und die Gerichte verurteilen sie entweder zu Haftstrafen oder verhängen Geldstrafen.

Unlängst tauchten auf den Strassen georgischer Städte Wahlkampftransparente auf, die sich inhaltlich kaum von Nazi- oder Sowjet-Propaganda unterscheiden. Darauf sind vom Krieg verwüstete Städte der Ukraine zu sehen, was der Bevölkerung Angst einflössen soll. Die Botschaft lautet: Wenn wir nicht für den «Georgischen Traum» stimmen, wird es im Land bald einen Krieg geben, wie man ihn von der Ukraine her kennt.

Iwanischwili besitzt auch eine Leidenschaft für alte Bäume. Er hat jahrhundertealte Eichen und Platanen in ganz Georgien zusammengekauft und in seine Haine verpflanzt. Der Transport dieser Bäume ist sehr teuer; er mietet Schiffe für den Transport und baut spezielle Strassen.

Dieses Jahr brachte er riesige Affenbrotbäume aus Kenya nach Hause, die dem Klima nicht standzuhalten vermochten und verdorrten. Dafür gab Iwanischwili der Opposition die Schuld, die sich über seinen Spleen lustig machte. Es hiess, dass Iwanischwili seine Bäume umarme und mit ihnen spreche.

Der Verlust der Heimat

Der «georgische Traum» hat sich längst in einen «russischen Albtraum» verwandelt. Deshalb ist die Wahl vom 26. Oktober ein schicksalhafter Tag in der Geschichte Georgiens. Entweder besiegt das Land den russischen Golem und kehrt auf den europäischen Weg zurück, oder es wird endgültig zu einer Provinz Russlands. Schon jetzt sind zwanzig Prozent des Territoriums von Russland besetzt. Russische Panzer stehen nur eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Tbilissi entfernt – in der Nähe der Stadt Gori, in der Josef Stalin geboren wurde.

Ich beobachte seit zwölf Jahren, wie Georgien langsam von der Weltkarte verschwindet. Stück für Stück nimmt Russland mir mein Land weg. Einen Freund, einen Elternteil oder ein Kind zu verlieren, ist ein schrecklicher Schmerz. Aber was für ein Schmerz ist es, seine Heimat zu verlieren? Die Heimat, die gleichzeitig Freund, Vater und Mutter und Kind ist. Welches Herz kann den Verlust von allem zusammen verkraften?

Es gibt Dinge, die man nicht ersetzen kann. Sie zu verlieren, hinterlässt ein Loch im Herzen. Und mit der Zeit entstehen immer mehr Löcher. Und sie werden immer grösser. Doch jetzt könnte es sein, dass einem das Herz aus der Brust gerissen wird. Was wird die Leere füllen, die hier entsteht?

Zaza Burchuladze, geboren 1973 in Tbilissi, ist Romanautor und Dramatiker. Er lebt und arbeitet in Berlin. Zuletzt ist 2022 bei Tropen der Roman «Zoorama» erschienen. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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