Heimatverlust gab es vor 1989 nicht nur im modernistischen Westen, sondern auch im Osten. Der preisgekrönte tschechische Roman «370 m über NN» erzählt die Geschichte eines Dorf, das von einem Stausee überflutet wird.

Eine der schönsten Passagen in diesem tschechischen Dorfroman ist eine hingetupfte Liebesszene, die an Filme der Nouvelle Vague und der eher anarchischen Tschechoslowakischen Neuen Welle denken lässt, an «Geraubte Küsse» und «Tausendschönchen»: Hana, die seiltänzerische Erzählerin von Jiři Hájíčeks Roman «370 m über NN», streift durch den Obstgarten von Onkel Venca an der Moldau, und weil ihr Zdeněk antriebslos folgt, statt sie zu küssen, zwingt sie ihn zur «Baumnamenprüfung». Hana ruft «Leutnant Dub», «Kadett Biegler», «Oberleutnant Lukáš» und «Frau Müllerová», und Zdeněk hetzt durch den Garten – er hat den richtigen Apfel-, Birn- oder Pflaumenbaum zu umarmen.

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Die Namen entstammen Jaroslav Hašeks Roman «Die Abenteuer des braven Soldaten Švejk», sie begleiten Hana seit der Jugend. Den tschechoslowakischen Klassiker des anarchischen Antimilitarismus las sie erst Onkel Venca laut vor und seitdem immer wieder ihrem geliebten, rebellischen Bruder Honza. Der Vater schätze statt des Švejk, erzählt sie Zdeněk, der schon wieder die Schultern hängen lässt, Jindřich Šimon Baar und dessen Roman «Jan Cimbura» aus dem Jahr 1908.

Jiři Hájíčeks «370 m über NN» bringt beides zusammen, die realistische Landprosa und den subversiven Schelmenroman. Es ist ein versöhnliches Buch.

Suche nach der verlorenen Zeit

Hájíčeks 2012 im Original erschienener und mit dem angesehenen Magnesia-Litera-Preis ausgezeichneter Roman beginnt mit einer anderen Namensliste: Hana, die mit ihrem Freund ein Hostel in den Niederlanden betreibt und inzwischen 41 Jahre alt ist, kehrt erstmals nach fünfzehn Jahren zurück in die Heimat um das südböhmische Budweis. Sie will ihrem verwitweten Vater nach einer Hüft-OP helfen. Neben «Papp» und «Honza», über dessen spurloses Verschwinden Hana endlich mit ihrem Vater sprechen will, hat sie auf einem kleinen Zettel weitere Namen notiert. Es sind, so Hana, die «Namen meines Lebens», eines buchstäblich untergegangenen Lebens.

Jiři Hájíček erzählt von Hanas Begegnungen, indem er in die kurze Rückkehrgegenwart des Jahres 2008 zwei lange Rückblenden in die Jahre 1983 bis 1992 einschiebt. Anfangs wirken die Erinnerungen an die Vergangenheit nostalgisch: Hanas Freund Zdeněk ist der Sohn des Nachbarn, ihre Freundinnen Anna und Olina wohnen um die Ecke. Weder sie noch Hana klingeln, wenn sie sich besuchen, an der Tür – sie klopfen am ebenerdig liegenden Fenster oder steigen gleich über das Fensterbrett. Die Häuser im Dorf sind hundert oder mehr Jahre alt, und Hana kennt alle Menschen, die in ihnen leben.

Doch die Vertrautheit bekommt Risse: Die jungen Männer müssen zum Militär, die jungen Frauen denken über Berufe nach. Noch wollen sie nicht weiter weg als bis nach Budweis, in die nächste grosse Stadt. Ein Mensch, ausgerechnet Hanas geliebter Bruder Honza, ist jedoch plötzlich spurlos verschwunden. Über die Gründe will Hanas Vater selbst im Jahr 2008 – der Erzählgegenwart – noch nicht sprechen. Hana muss ihn zwingen, und sie wird Honza finden.

Nicht nur der Bruder verschwindet Mitte der achtziger Jahre. In der Nähe von Hanas namenlosem Dorf, in Temelín, soll ein Kernkraftwerk gebaut und für das Kühlwasser die Moldau aufgestaut werden. Das Ufer des Stausees würde 370 Meter über Normalnull liegen und die Hälfte von Hanas Dorf überschwemmen. Ihr Elternhaus, die Häuser ihres Onkels und ihrer Freundinnen sollen daher abgerissen werden, die Bewohner in Plattenbauten umziehen. Der technische Fortschritt verschlingt wie eine Sintflut Orte, Häuser, Freundschaften und auch Menschen: Onkel Venca wählt den Freitod in der Moldau. «Alles schien auseinanderzufallen, alle irgendwohin zu verschwinden», denkt Hana.

Die jungen Menschen nehmen den Kampf auf. «370 m über NN» wird unversehens ein Aktivistenroman, allerdings ein nicht allzu aktivistischer – die Tschechoslowakei ist eine sozialistische Volksrepublik. Hana und ihre Freunde sammeln Unterschriften – nicht gegen das Kernkraftwerk oder den Stausee, sondern gegen den Abriss der Häuser. Fast alle im Dorf unterschreiben, und Hana überreicht ihrem Vater, Mitglied im örtlichen Nationalausschuss, die Listen. Dass er sie den Behörden aus Angst nicht übergibt, erfährt Hana erst, als nach der samtenen Revolution die Havel-Regierung das Kraftwerk weiterbauen lässt.

Die riesigen Kühltürme sind von den bedrohten Dörfern aus schon zu sehen, als 1986 in Tschernobyl der GAU eintritt. Die Freunde Hanas durchschauen zwar dank dem österreichischen Fernsehen die Desinformation der Regierung, aber sie radikalisieren sich nicht und protestieren nicht gegen die Atomenergie. Sie wollen das Gewachsene bewahren. Nicht das Ferne und Unsichtbare, sondern das Nahe und Greifbare steht bei Hájíček im Vordergrund.

Konservatives Programm

Der in Budweis lebende Autor, Jahrgang 1967, arbeitet in einer Bank und ist ein unaufgeregter Chronist von existenziellen Verwerfungen vornehmlich in Südböhmen. Er sei Lokalpatriot, sagt er über sich, reise ungern und finde seine Stoffe in der nahen Provinz. Das zur Hälfte im Stausee verschwindende Dorf kennt er aus der Kindheit. «370 m über NN» ist Teil einer Trilogie, die der tschechische Verlag eine «ländliche Trilogie des moralischen Unbehagens» nennt. Es sind Dorfromane, die anders als viele österreichische oder Schweizer Pendants nicht von grausamen Zuständen und Zurichtungen erzählen, sondern von Heimat. Der Antrieb des Hájíčekschen Erzählens heisst Rettung vor dem immer dräuenden Verschwinden.

Das ist ein konservatives Programm, und Hájíček ist ein traditioneller, an Siegfried Lenz erinnernder Erzähler, den Kristina Kallert ruhig und atmosphärisch übersetzt. Den Realismus aber versetzt er mit Szenen wie dem Baumnamenspiel in sanft-symbolische Spannung. Geradezu surreal klingt die Geschichte vom Dorfchronisten Herr Tušl, der auch auf Hanas Namenszettel steht. Der Greis musste nach der Auslöschung seines Dorfes in einen Plattenbau umziehen. Die Jalousien vor seinen Fenstern im vierten Stock sind Tag und Nacht unten, weil der Blick aus ihnen direkt auf die gewaltigen Kühltürme fällt. In den dunklen Zimmern aber führt er die Chronik seines Dorfes und ihrer Bewohner weiter. Das Leben stirbt nicht, solange nur von ihm erzählt wird.

Jiři Hájíček: 370 m über NN. Roman. Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Verlag Karl Rauch, Düsseldorf 2025. 396 S., Fr. 38.90.

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