Auf das Massaker der Hamas im vergangenen Oktober hat David Grossman mit erstaunlichen Beiträgen reagiert. Zugleich erweisen sich frühere Texte als prophetisch. Nun kann man sie in einem schmalen Sammelband nachlesen.
Sechs Tage nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober hat der israelische Schriftsteller David Grossman in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» einen bemerkenswerten Artikel veröffentlicht. Noch ehe er darin die Mörder beim Namen nannte, verurteilte er den «kriminellen Leichtsinn» der israelischen Sicherheitsdienste und bezichtigte die eigene Regierung des Verrats: «Sie hat alles verraten, was uns als Bürgern dieses einen bestimmten Landes teuer war.»
Erst viele Absätze später schreibt Grossman, man dürfe sich bei aller Wut auf Netanyahu keiner Täuschung hingeben: «Die Greueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas.» Es gibt kaum einen grösseren Kontrast als zwischen diesem Zeugnis der Besonnenheit und den Reaktionen im Gazastreifen, wo die Hamas-Attentäter als Helden gefeiert wurden. Oder als in den Tagen danach und erst recht mit Beginn der Gegenschläge sich ein Wutgeheul erhob von Gaza bis an die amerikanischen Eliteuniversitäten. Rechtfertigte man zunächst das schändliche Massaker, tat man alsbald so, als habe es den Hamas-Angriff gar nicht gegeben.
Prophetische Ahnungen
David Grossmans Artikel kann man in dem Bändchen «Frieden ist die einzige Option» nachlesen, das in diesen Tagen erscheint. Es versammelt Beiträge aus der jüngsten Vergangenheit, in denen der Schriftsteller für eine Versöhnung mit den Palästinensern plädiert. Grossman ist seit den 1980er Jahren als Friedensaktivist engagiert und hat 2006 einen Sohn bei Kämpfen in Libanon verloren.
Man liest diese Texte nicht ohne Beklemmung, denn rückblickend erweisen sie sich in ihren schlimmsten Befürchtungen als prophetisch. Zugleich zeigen sie, wie sehr das unbedingte Verlangen nach Frieden mitunter Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen lässt. Er bete und hoffe, schreibt Grossman in seinem Beitrag für die «FAZ», «dass sich im Westjordanland einige Palästinenser trotz Abscheu gegen die israelischen Besatzer bereitfinden werden, sich von dem zu distanzieren, was ihre Landsleute aus dem Gazastreifen angerichtet haben». Sollte es diese Stimmen geben, so sind sie bisher kaum an die Öffentlichkeit gelangt.
Grossman denkt als Schriftsteller in der Möglichkeitsform. Das macht aus ihm auch einen unerbittlichen Analytiker. Im Zuge von Netanyahus umstrittener Justizreform sah er den Staat in einen Abgrund der Schwäche stürzen. Ein halbes Jahr vor dem Massaker schrieb er, es bemächtige sich der Bürger ein Gefühl, «dass ihre nationale Heimstätte und schon bald vielleicht auch ihr privates Haus in Flammen stehen kann».
Das Undenkbare denken
Bereits ein paar Monate zuvor hatte Grossman, als ahnte er, was kommen könnte, einen erschütternd hellsichtigen Satz gesprochen. Sollte einmal eine Tragödie unvorstellbaren Ausmasses über das Land hereinbrechen, dann möge den Menschen die Kraft erhalten bleiben, «nicht aufzuhören, das Herz zu sein, das fühlende Herz, aufgerissen, ungeschützt, und auch nicht aufzuhören, zu denken. Das denkende Herz. Immer und immer wieder das denkende Herz».
Heute eilt David Grossman im Denken schon wieder weit voraus. In der jüngsten Ausgabe der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» spricht er das derzeit noch fast Undenkbare aus: «Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, zwischen uns und der Hamas eine Art Dialog herbeizuführen.» Sie seien verdammt dazu, sagt er, mit ihr Geschäfte zu machen. Vielleicht verdeutlicht nichts die heutige Tragödie besser als Grossmans Einsamkeit. Wenn sich nur auf der Gegenseite ähnlich couragierte Denker zu Wort melden würden.
David Grossman: Frieden ist die einzige Option. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler. Hanser-Verlag, München 2024. 64 S., Fr. 15.90.