Polen ist als Nachbarland der Ukraine unmittelbar von dem Kriegsgeschehen betroffen. Der Präsident erklärt, warum er Verständnis hat für Donald Trumps Drohung, sich aus der Nato zurückzuziehen, und warum er glaubt, dass Russland derzeit geschwächt sei.
Herr Präsident, Russland hat in Syrien gerade eine Niederlage zu verkraften: Asad ist weg, und damit vielleicht auch bald der russische Zugang zum Mittelmeer. Welche Konsequenzen sehen Sie bei diesen Vorgängen für den Krieg in der Ukraine?
Der Rückzug aus Syrien zeigt uns: Russland kann nicht an zwei Fronten Krieg führen. Wladimir Putin war nicht mehr imstande, Asad zu unterstützen, und hat Syrien opfern müssen.
Befürchten Sie, dass Russland aufgrund des Rückzugs aus Syrien die Offensive in der Ukraine verstärkt?
Das glaube ich nicht. Russland hat nicht die nötigen Ressourcen dafür. Wenn wir nach den Gründen für den Rückzug aus Syrien suchen, spielt die Angst vor dem künftigen amerikanischen Präsidenten eine grosse Rolle. Russland versucht sich offensichtlich für mehrere Szenarien zu wappnen und militärische Ressourcen bereitzustellen.
Polen ist ein Nachbarstaat der Ukraine, wie präsent ist der Krieg bei Ihnen?
Er ist nach wie vor eine Gefahr für Polen. Schon mehrmals haben Raketen unseren Luftraum verletzt, eine ist bisher auf polnischen Boden eingeschlagen. Es gibt nach wie vor eine Reihe russischer Provokationen im Ostsee-Luftraum: Da Polen bei der Luftraumverteidigung der drei baltischen Staaten mitmacht, fliegen unsere oder alliierte Militärjets praktisch täglich dorthin, um die Russen aus diesem Luftraum – den polnischen mit eingeschlossen – zu vertreiben. Zudem sind in den letzten bald drei Jahren viele Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns gekommen, im Moment sind es noch knapp eine Million. Viele Polen haben diese Menschen bei sich zu Hause aufgenommen, und viele helfen ihnen auch heute noch. Ich bin sehr stolz auf meine Landsleute, wie sie ihre Herzen und ihre Häuser aufgemacht haben.
Amerika bekommt einen neuen Präsidenten. Sie sind einer der wenigen Staatspräsidenten in Europa, die Donald Trump schon während seiner ersten Amtszeit erlebt haben. Was halten Sie von seiner Ankündigung, den Krieg in der Ukraine möglichst rasch zu beenden?
Donald Trumps Denkweise ist untypisch für einen Politiker, aber er ist gleichzeitig sehr klar in seinen Einschätzungen. Er denkt sehr logisch und praktisch. Aber wenn er über seine künftigen Pläne spricht, ist er sehr enigmatisch: Er sagt nicht klar, welche Methoden er in Zukunft anwenden wird. Er tut das, um sich nicht in die Karten blicken zu lassen.
Und trotzdem sind Sie entspannt, wenn Sie auf seine zweite Präsidentschaft blicken?
Ja, wir kennen uns, wir sind uns schon oft persönlich begegnet und haben uns ausführlich unterhalten. Er kam 2017, während seiner ersten Präsidentschaft, nach Polen, und später habe ich ihn drei Mal im Weissen Haus besucht. Im April dieses Jahres hatten wir ein längeres Gespräch in New York. Ich kann sagen, dass ich ganz beruhigt darauf warte, bis er wieder im Amt ist. Ich glaube, es gibt nur zwei Präsidenten auf der Welt, vor denen Wladimir Putin wirklich Angst hat: den chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Donald Trump
Warum?
Weil Donald Trump ein starker Mann ist. Er kann Entscheidungen treffen – und hat in seinem Leben schon viele wichtige getroffen. Oft wurden in ihrer Folge grosse Investitionen getätigt. Er hat grosse ökonomische Erfahrung. Und für Wladimir Putin sind seine künftigen Entscheidungen nicht abzuschätzen.
Sie glauben also nicht, dass Trump die Ukraine im Stich lässt – wie das viele in Europa befürchten?
Präsident Trump zählt und rechnet. Er weiss sehr wohl, wie viel die USA politisch in die Ukraine investiert haben, während seiner letzten Präsidentschaft, aber auch in den vergangenen vier Jahren. Ich glaube nicht, dass er solche Investitionen einfach so aufgeben wird. Wenn meine Amtskollegen im Gespräch Befürchtungen äussern, was Trump in der Ukraine machen wird, lächle ich und sage: Versucht mal, Trump etwas wegzunehmen, von dem er glaubt, dass es ihm gehöre.
Donald Trump hat auch angedeutet, dass er sich aus der Nato zurückziehen könnte. Für Polen ist die Nato besonders wichtig. Sind Sie diesbezüglich auch so entspannt?
Man muss den Zeitpunkt und die Hintergründe für Donald Trump anschauen und sich vergegenwärtigen, wie er auf die Welt schaut. Sein ganzes Leben lang hat er Geschäfte gemacht. Wenn er jetzt wieder das Präsidentenamt übernimmt, dann stehen für ihn die amerikanischen Interessen beziehungsweise jene der amerikanischen Steuerzahler im Vordergrund. Gleichzeitig will er sicherstellen, dass die USA eine gewichtige Weltmacht bleiben – und das können sie nur, wenn sie reich sind. Er weiss, dass die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, nicht unendlich sind. Jedes Fass hat einen Boden. Deshalb ist Trump der Ansicht, dass jeder für seine Sicherheit und Verteidigung zahlen muss. Ich glaube, dass Donald Trump sich denkt: Warum soll ich meine Truppen in Staaten stationiert lassen, die nicht einmal 1,5 Prozent des BIP aufwenden? Warum sollte der amerikanische Steuerzahler mehr für die Verteidigung dieser Länder ausgeben als deren eigene Steuerzahler? Kann sein, dass es Leute gibt, die das nicht verstehen, aber ich verstehe Trumps Überlegungen.
Sie meinen also, dass Trumps Drohung nur dazu da ist, die Europäer dazu zu bringen, endlich mehr in ihre Verteidigung zu investieren?
Wenn Donald Trump vom Austritt aus der Nato spricht, dann meint er, dass er nicht die Kosten für die Verteidigung jener Länder tragen will, die selbst nicht dafür zahlen wollen. Aber es gibt auch noch eine andere Dimension in dieser Frage, und das ist ein Paradox: Jene Länder, die keine 2 Prozent für ihre Verteidigung aufwenden, treten für europäische Autonomie ein. Ich möchte ja wissen, wie Europa sich so verteidigen soll.
Sie sprechen von Deutschland und Frankreich?
Ich sage es so: Wenn alle Mitgliedstaaten der EU 4 Prozent des BIP aufwenden würden – einen Wert, den Polen in diesem Jahr sogar übertroffen hat –, dann könnten wir uns vielleicht selbst ohne die USA gegen Russland verteidigen. Mit nur 2 Prozent des BIP haben wir keine Chance.
Wie lautet Ihr Argument, um Ihre europäischen Kollegen zu überzeugen?
Als ich auf Einladung von Joe Biden im März in Washington war, habe ich ihm vorgeschlagen, dass alle Nato-Mitglieder ihr Verteidigungsbudget auf 3 Prozent des BIP erhöhen. Warum? Wir sind in Zeiten wie im Kalten Krieg. Russland macht heute wieder aggressive, imperialistische Politik. Wie damals droht uns Russland mit Atomwaffen. Westeuropa, angeführt von den USA, hat den Kalten Krieg gewonnen und die damalige UdSSR besiegt, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Sowjetrussland war nicht in der Lage, den Wettbewerb im Kalten Krieg wirtschaftlich zu gewinnen. Damals haben alle Nato-Staaten mindestens 3 Prozent des BIP für die Verteidigung ausgegeben. Wenn wir die Sicherheitsfragen ernst nehmen und Russland stoppen wollen, müssen wir dahin zurück.
Das heisst also, Sie machen sich keine grundsätzlichen Sorgen um die Nato?
Nein. Aber ich glaube, dass die Nato lebendig bleiben muss. Sie muss nicht nur dynamisch reagieren, sondern auch die Handlungen ihrer Gegner antizipieren. Russland lässt nicht nur seine Muskeln spielen, sondern es bedroht Europa auch mit Aggression. Aber dann muss Russland spüren, dass die Nato eine eiserne Faust hat und es ein sehr schlechtes Ende für das Land nehmen wird. Deswegen sollte die Nato sich an die Umstände anpassen: nicht nur durch grössere Verteidigungsausgaben, sondern auch durch die Ausarbeitung von Verteidigungsplänen, gegenseitige Abstimmung der Waffenproduktion, mehr militärische Manöver und Ausbau der Infrastruktur.
Und wie wappnen Sie sich gegen die hybride Kriegsführung? Sie erleben sie an Ihren Grenzen, etwa an jener mit Weissrussland, wo mutmasslich von Russland geschickte Migranten versuchen, den Zaun zu überwinden.
Solche Angriffe gibt es ja nicht nur in Polen, sondern auch im Baltikum, und zwar schon seit Sommer 2021. Damals tauchten Gruppen von Migranten an der litauisch-weissrussischen Grenze auf. Eine Woche später wiederholten sich die Vorgänge an der polnisch-weissrussischen Grenze. Heute glauben wir, dass Russland damals testen wollte, ob wir reagieren, ob unsere Grenzen dicht sind und ob wir fähig sind, genügend Truppen zu mobilisieren. Wenn die Grenzen nicht geschützt gewesen wären, hätten die westlichen Länder uns vorgehalten, wir seien nicht in der Lage, die Aussengrenzen der EU zu schützen. Es hätte Chaos im Schengenraum geben können. Denn diese Flüchtlinge sagten fast alle, dass sie nach Deutschland wollten.
Aber diese Angriffe dauern bis heute an – was tun Sie dagegen?
Die hybriden Angriffe haben sich allmählich intensiviert und ihren Höhepunkt im Winter 21/22 erreicht. Im Februar 2022 wurde die Ukraine angegriffen. Der Zusammenhang ist offensichtlich. Später wurden diese Angriffe an der russisch-finnischen Grenze fortgesetzt. Wir haben unseren Grenzschutz verstärkt: Militär und Polizei arbeiten viel enger zusammen. Zudem haben wir einen Zaun errichtet und eine elektronische Überwachung installiert. Dazu haben wird auch diplomatische Massnahmen ergriffen, um dem Problem zu begegnen.
Was meinen Sie mit diplomatischen Massnahmen?
Zwei der wichtigen Bahnlinien, auf denen Güter von China in die EU transportiert werden, kommen in Polen an. Derzeit funktioniert nur jene, die durch Weissrussland führt; jene durch die Ukraine wird durch den Krieg immer wieder gestört. Ich habe deshalb den chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf das Problem hingewiesen und gesagt, wenn das so weitergehe, sähen wir uns gezwungen, die Grenzübergänge für Güterzüge zu schliessen.
Die Schweiz hat gerade beschlossen, nur noch Ukrainern Schutz zu gewähren, die aus Gebieten kommen, in denen gekämpft wird. Auch in Polen nimmt die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine ab – halten Sie einen ähnlichen Politikwechsel für möglich?
Es gibt verschiedene Diskussionen in der Öffentlichkeit – und ich glaube, gewisse Spekulationen werden von den Journalisten ausgelöst. Die Hilfe für die Flüchtlinge aus der Ukraine erforderte vor allem am Anfang viel Engagement. Ich denke, wenn fast drei Jahre nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine immer noch mehr als 50 Prozent der Polen erklären, dass sie die Flüchtlinge aus der Ukraine unterstützen wollen, ist dieser Prozentsatz sehr hoch. Und man muss sagen, dass die Ukrainer sehr viel tun, um sich zu integrieren und sich selbst zu versorgen. Die meisten von ihnen arbeiten, in Taxis, in Läden, auf Baustellen. Private haben Hilfe im Umfang von schätzungsweise 2,2 Milliarden Franken geleistet. Und der Staat hat fast 5 Prozent seines BIP für humanitäre und militärische Hilfe ausgegeben: Eine grosse Zahl der Ukrainer beziehen polnische Sozialleistungen, und die Kinder besuchen polnische Schulen. Alleine die Militärhilfe beläuft sich auf etwa 3,3 Milliarden Schweizerfranken. Versuchen Sie das auch zu tun!
Sie wollen damit sagen, dass sich die Schweiz ein Beispiel nehmen sollte?
Ich beschreibe nur die Situation. Wenn die Schweiz jedoch bereits alles russische Geld, das sich auf Schweizer Konten befindet, für die Ukraine zur Verfügung stellen würde, wäre das schon genug. (Lacht.)
Ein Konservativer, der sich zu mässigen weiss
Andrzej Duda ist seit 2015 Staatspräsident von Polen. Seine politische Karriere begann der 1972 geborene Jurist rund 15 Jahre früher bei der links-liberalen Freiheitsunion (UW). 2005 näherte er sich der konservativen Kaczynski-Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) an und diente zunächst als ihr Berater. 2007 wurde er Unterstaatssekretär im Justizministerium der ersten Kaczynski-Regierung. Er wechselte dann ins Präsidialamt von Lech Kaczynski (PiS) und wurde 2011 als PiS-Mitglied ins polnische Parlament gewählt. Dort setzte er sich für Mieterrechte, Gefängnisstrafen für In-vitro-Fertilisations-Eltern und gegen Polens Übernahme des Euro ein. Als er 2015 von der PiS-Führung zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde, nahm Duda von extremen Haltungen Abstand und signalisierte mehr Offenheit gegenüber der politischen Mitte. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten legte er – wie von der polnischen Verfassung verlangt – sein PiS-Parteibuch ab, blieb aber politisch seiner rechts-konservativen Herkunft treu. So versprach er nach der Niederlage der PiS bei den Parlamentswahlen 2023, sämtliche PiS-Errungenschaften zu verteidigen, wenn nötig mit seinem präsidialen Veto. Duda ist ein harter Kritiker der liberalen Regierungskoalition von Donald Tusk und weigert sich etwa hartnäckig, die Ernennung von neuen polnischen Botschaftern mit seiner Unterschrift zu beglaubigen. In seiner Funktion darf er insbesondere in der Ausrichtung der polnischen Aussenpolitik mitreden. Dudas zweite Amtszeit endet im Sommer 2025, er kann nicht noch einmal kandidieren.