Europa habe viele grossartige Technologien verpasst, bei denen ein Grossteil der Wertschöpfung nun in den USA und China stattfinde, sagt Jeannette zu Fürstenberg. Das sollte bei KI nicht noch einmal passieren.
Jeannette zu Fürstenberg gehört zu den neuen Stars der europäischen Wagniskapitalbranche. Das «Handelsblatt» kürte sie Anfang 2023 zur Investorin des Jahres, weil sie mit ihren Investitionen in Startups oft ein gutes Händchen bewiesen hat. Die 41-Jährige brennt jedoch nicht nur für die Wagniskapitalbranche, sondern auch für die vielversprechenden Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI). Als Mitgründerin der Venture-Capital-Firma La Famiglia bringt sie beides unter einen Hut.
Im vergangenen Jahr begab sich La Famiglia unter das Dach des deutlich grösseren Konkurrenten General Catalyst aus den USA, mit dessen Chef zu Fürstenberg befreundet ist. Sie soll bei den Amerikanern den Aufbau eines weltweiten Frühphasen-Investitionsprogramms leiten. Zudem wird sie dem Europageschäft vorstehen. Zu Fürstenberg, die aus einer Duisburger Industriellenfamilie stammt, setzt sich ausserdem dafür ein, Europa wettbewerbsfähiger zu machen und hiesige mittelständische Unternehmen zu stärken.
Frau zu Fürstenberg, Sie haben 2023 einen offenen Brief gegen eine zu strenge KI-Regulierung in der EU mitinitiiert, an dem sich viele Wirtschaftsvertreter beteiligt haben. Was hat Sie angetrieben?
Wir haben befürchtet, dass es in der EU wieder einmal zur Überregulierung kommt. In Europa neigen wir dazu, immer zuerst die Gefahren zu sehen, anstatt uns zu überlegen, wie wir aus einer neuen Technologie einen Vorteil im globalen Wettbewerb erzielen können. Die starke Resonanz aus der Branche hat uns gezeigt, dass nicht nur wir das so sehen. Zum Glück haben wir auch in Brüssel und Berlin Gehör gefunden. Viele Vertreter dort hatten dem Thema zuvor zu wenig Bedeutung beigemessen. Die jetzige Regelung ist zwar etwas entschärft worden, aber es bleibt absurd, junge Firmen mit fast tausend Seiten Regulierung zu konfrontieren.
Wie sehen Sie die europäische KI-Regulierung nun im Vergleich mit den Wettbewerbern USA und China?
Das kann man noch nicht abschliessend sagen. Der erste Entwurf in den USA in Form eines Präsidialerlasses war ebenfalls sehr restriktiv und wird wohl nicht so bleiben. In China wird KI als Gefahrenherd für das Regime gesehen. Insofern wird man dort die Nutzung durch private Firmen sehr genau anschauen. Die Europäer müssen erneut aufpassen, dass sie mit den USA und China weiter auf Augenhöhe am Tisch sitzen und nicht nur auf der Speisekarte stehen. Dem Mangel an technologischer Souveränität müssen wir gezielt begegnen. Dafür werden KI und ein adäquates regulatorisches Umfeld ein entscheidender Hebel sein.
Die EU will nun Risikoklassen für KI-Anwendungen schaffen.
Das geht gezielt an der Realität vorbei. Grundsätzlich sollten wir zwischen der Applikations- und der Infrastrukturebene unterscheiden. Bei den Applikationen ist die Einstufung in Risikoklassen für bestimmte Anwendungen wie biometrische Identifikationssysteme oder generative KI-Anwendungen im Gesundheitswesen sinnvoll.
In Brüssel hat man offenbar Angst vor dem Missbrauch der Technologie.
Man kann, wie bei vielen Technologien, auch mit KI entweder Gutes schaffen oder sie für kriminelle Machenschaften nutzen. Letzteres muss man selbstverständlich verhindern. Wir haben in Europa viele grossartige Technologien verpasst, etwa die Welle der Mobile- und Cloud-Technologie. Hier ist ein Grossteil der Wertschöpfung in den USA und China gelandet. Das sollte uns im Hinblick auf KI und ihr enormes Wertschöpfungspotenzial nicht noch einmal passieren. Wir waren bei den vergangenen beiden Technologiewellen in Europa oft zu zaghaft in der Umsetzung und haben uns in bürokratischen Korridoren verrannt.
Was sollte die Bundesregierung tun?
Berlin sollte offen sein für die unterschiedlichen Anwendungsfelder. Dazu zählen zum Beispiel Bildung und Verteidigung, um nur zwei Bereiche zu nennen. Bei der Bildung kann KI helfen, dem Lehrermangel zu begegnen, wie Studien aus den USA bereits zeigen. So kann man die Aufmerksamkeit von Kindern spielerisch binden und sie dadurch zu einem von Neugier geprägten Lernen animieren, was vor allem den Schwächsten helfen kann. Auch bei der Verteidigung kann KI wichtige Anwendungen liefern, mit denen wir unsere Fähigkeiten stärken können. Die Münchener Firma Helsing, die wir ebenfalls von Anfang an unterstützten, modernisiert, verbindet und verstärkt mithilfe von KI die Fähigkeiten von Kampfjets, Kriegsschiffen und Panzern.
Ist das Aufkommen von KI auch eine Chance, den Forschungsstandort Europa wieder attraktiver zu machen?
Wir übersehen oft, dass europäische Forscher Weltspitze sind. Die Europäer sind jedoch schlecht darin, ihre Forschung zu kommerzialisieren. Auch an KI-Entwicklungen haben europäische Forscher einen grossen Anteil, sie stehen jedoch meist in Lohn und Brot von US-Konzernen. So müssten wir Wissenschaftern zum Beispiel für sie frei verfügbare Hochleistungsrechenkapazitäten zur Verfügung stellen. Konzerne wie Facebook und Google haben so erfolgreiche Geschäftsmodelle, dass sie problemlos genügend finanzielle Kapazitäten bereitstellen können, damit ihre Forscher neue und nahezu beliebig viele experimentelle Anwendungen an Hochleistungsrechnern testen können.
Sie plädieren dafür, dass in Europa der Staat den Forschern die nötige Rechenleistung zur Verfügung stellt?
Ja, unbedingt. Wir müssen uns überlegen, wie wir ein attraktives Umfeld schaffen, damit unsere Wissenschafter hierbleiben können oder zurückkommen. Inzwischen haben wir einige KI-Unternehmen, die auch als Arbeitgeber für herausragende Forscher attraktiv sind, wie Mistral AI oder auch Helsing. Beide haben bewiesen, dass europäische Top-Talente zu ihnen kommen, die vorher in den genannten US-Technologiekonzernen tätig waren.
Mit welcher technischen Entwicklung kann man das Aufkommen von KI vergleichen? Zum Beispiel mit dem Start des Internets?
Ja, das ist ein guter Vergleich. Ein anderer wäre die Epoche der Renaissance. In dieser Zeit ist es Europa gelungen, sich sehr viel schneller als andere Regionen in der Welt zu entwickeln. Damals haben neue Ideen und Erfindungen zu einer enormen Beschleunigung von Innovationen und starkem Wachstum geführt. Den transformatorischen Moment durch das Aufkommen von KI kann man damit durchaus gleichsetzen.
Das ist ein grosser Vergleich.
Wir haben die möglichen Veränderungen durch KI noch gar nicht richtig erfasst. Bei vielen Schreibtischberufen wird KI künftig einen Grossteil der Arbeit übernehmen können. Dadurch entstehen Freiräume, um sich wieder auf die Arbeiten zu konzentrieren, die man nicht automatisieren kann und die doch zutiefst menschlich sind, beispielsweise die Alten- und Krankenpflege. Dadurch könnten diese Berufe auch wieder mehr Wertschätzung erfahren.
Wie bereits erwähnt, sind Sie mit La Famiglia auch bei Mistral AI investiert. Was macht die Firma so besonders?
Mistral entwickelt KI-Sprachmodelle für Firmenkunden. Diese werden mit enormen Datenmengen trainiert, damit sie Spracheingaben verarbeiten, Texte schreiben, Computer-Codes produzieren oder andere Aufgaben lösen können. Dabei lässt Mistral in einem der Modelle nicht jede Aufgabe durch das ganze System laufen, sondern nur durch die Teile, die zur Lösung der Aufgabe nötig sind. Das ist viel effizienter. Inzwischen wird die Firma mit ihren nur knapp 25 Mitarbeitern mit 2 Milliarden Dollar bewertet.
Damit sind wir bei der Venture-Capital-Branche, die in den letzten Monaten durch den starken Zinsanstieg einen Dämpfer erhalten hat. Kapital ist knapper, Börsengänge sind seltener geworden, zudem ist eine Konsolidierung angelaufen. Wie sehen Sie die Lage?
Man darf nicht vergessen, dass wir in den Jahren zuvor durch die extrem niedrigen Zinsen einen künstlichen Boom erlebt haben. Das gilt auch für die Venture-Capital-Branche. Jetzt sehen wir eine Normalisierung. Wichtig ist, dass wir ambitionierte Zukunftsvisionen entwickeln und anstreben. Europa ist bekannt für seine nachhaltigen Unternehmen, die über Generationen hinweg Bestand haben. Wenn es uns gelingt, diese Tradition mit ambitionierten Zielen für die Zukunft zu verbinden, haben wir eine echte Chance. Ich gehöre zur fünften Generation in unserer Familienfirma, und mein Mann steht für die 25. Generation im Unternehmen seiner Familie. Das finden Sie in den USA so nicht.
Dort haben Unternehmer dagegen andere Stärken.
Allerdings. In den USA haben Unternehmer teilweise unfassbare Ambitionen und eine ungleich geringere Angst, zu scheitern. In Europa sind wir oft zu zaghaft. Derzeit kommen die führenden Technologiekonzerne fast alle aus den USA, und das muss sich ändern. Dazu müssen wir uns den grossen und teilweise auch regulatorisch bedingt schwierigen Handlungsfeldern widmen und unseren Kontinent damit resilienter machen. Dabei sollten wir die zentralen Probleme angehen, die technologischer Neuerung bedürfen, etwa die Zukunftsfähigkeit unserer heimischen Industrie, die Ansiedlung von lokalen Lieferketten rund um erneuerbare Energien und die Stärkung unserer Verteidigungsindustrie. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass künftig drei der zehn grössten globalen Tech-Konzerne aus Europa kommen.
Haben Sie eine Idee?
Um Kapital effizient in innovative Firmen zu leiten, muss man auch die Stärkung unserer europäischen Börsenplätze mitdenken. Derzeit gehen viele Unternehmen für eine Börsenkotierung in die USA, weil sie nur dort die nötige institutionelle Sachkenntnis und das nötige Kapital finden. Daran müssen wir in Europa mit Nachdruck arbeiten. Ich könnte mir eine europäische Technologiebörse vorstellen oder zumindest einen starken europäischen Index für Wachstumsunternehmen, quasi einen europäischen Nasdaq. Meiner Meinung nach gehört dazu auch, die europäische Venture-Capital-Branche in all ihren Facetten zu stärken. Dabei geht es übrigens auch um Regulierung. So haben wir kaum Pensionsfonds, die öffentliche Gelder in Venture Capital investieren. Diese Renditen überlässt man damit letztlich entsprechenden Fonds aus den USA, Kanada, Australien und so weiter.
Mit La Famiglia versuchen Sie eine Brücke zwischen einerseits jungen Tech-Firmen sowie andererseits etablierter Industrie und mittelständischen Familienfirmen zu bauen.
Ja, diese Zusammenführung ist aus meiner Sicht ein wichtiger Hebel der Transformation. Vielen Firmen mangelt es an Zugang zu digitalem Know-how, um die Wertschöpfung zu erhöhen. Zugleich fehlen Startups oft Kunden aus der sogenannten Old Economy. Die Aktivierung solcher Partnerschaften verspricht viele positive Synergien. Bisher war die Resonanz positiv. Wir haben festgestellt, dass Unternehmer meistens eine Sprache sprechen, und ihnen ist gemein, dass sie die Zukunftsfähigkeit ihres Unternehmens priorisieren, egal, in welcher Generation sie gewachsen sind.
Sie selbst stammen aus der Familie, die hinter dem Unternehmen Krohne Messtechnik aus Duisburg steht. Wie weit ist denn die Digitalisierung in Ihrer Familienfirma?
Dazu kann ich wenig sagen, weil ich operativ nicht involviert bin und auch keine Arbeit mehr im Beirat leiste.
Reizt es Sie, einmal wieder in das familieneigene Unternehmen einzusteigen?
Ich bin immer auf meinen eigenen Pfaden gewandelt und zu sehr selbst in jeder Faser meines Daseins Unternehmerin, als dass ich mich in bestehende Strukturen einfügen möchte. Ich habe sehr viel Freude daran, meinem eigenen unternehmerischen Geist und meinen Ideen Ausdruck zu verleihen.
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