Sonntag, November 24

Obwohl mit der Normalisierung der Zinskurve das zuverlässigste Rezessionssignal ausgeschlagen hat, deutet an den Aktienmärkten nichts auf einen Abschwung hin. Unterstützung erhalten die Börsen vom zweitwichtigsten Indikator aus dem Bondmarkt.

Was ist nur aus der Rezession geworden? Während die globalen Einkaufsmanagerindizes tauchen und gewisse zyklische Aktien mit nach unten ziehen, handelt der von MSCI berechnete Weltaktienindex beinahe auf Allzeithöchst. Treiber der Rally sind nicht mehr die Highflyer aus dem Technologiebereich, sondern der Industrie- und der Finanzsektor. Das will so gar nicht in das Bild einer nahenden Rezession passen.

Dabei hat mit der US-Zinskurve kürzlich das wohl zuverlässigste Rezessionssignal ausgeschlagen. Nach mehr als zwei Jahren, in denen die Zinsen zweijähriger Treasury Bills unter den Renditen von länger laufenden Staatsanleihen lagen, hat sich die Inversion dank der Zinssenkungen des Federal Reserve aufgelöst – die kurzen Sätze sind also unter die langen gesunken, die Zinskurve zeigt damit wieder aufwärts, wenn auch nur leicht. Seit den Achtzigerjahren folgte auf eine solche Normalisierung stets eine Rezession (graue Fläche in der Grafik):

Der auf die Normalisierung üblicherweise folgende Abschwung ist auch der Grund, warum die erste Zinssenkung entgegen der landläufigen Meinung die Aktienmärkte meist nicht beflügelt. In früheren Zinszyklen sind die Börsen nach dem ersten Schritt der monetären Lockerung praktisch immer eingebrochen. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Mitte der Neunzigerjahre folgte auf die Zinssenkung keine Rezession, und prompt setzte der Aktienmarkt seine Rally fort, die zur Jahrtausendwende in die Technologieblase mündete. Erst deren Platzen beendete die Hausse.

Derzeit stehen die Chancen gut, dass es ähnlich herauskommt wie in den Neunzigerjahren, zumindest was die Fortsetzung der Hausse und die Konjunktur betrifft. So signalisiert der andere wichtige Indikator aus dem Bondmarkt derzeit noch keine Gefahr für Wirtschaft und Märkte: Der Risikoaufschlag für hochverzinsliche Unternehmensanleihen, im Jargon auch als Junk Bonds oder Ramschanleihen bezeichnet, ist jüngst auf ein neues Mehrjahrestief gefallen – und das trotz der Verschärfung der Lage im Nahen Osten:

Das ist deshalb von Belang, weil die Kreditrisikoprämien dem Aktienmarkt in der Regel vorauslaufen: In der Rezession beginnen sie sich zu erholen, während sich der Ausverkauf am Aktienmarkt noch fortsetzt, in der Hausse ist es umgekehrt. Das war auch beim letzten grösseren Einbruch 2022 der Fall, als der MSCI Welt in neun Monaten fast 30% eingebüsst hat: Während Aktien bis Anfang 2022 avancierten, erreichten die Spreads für Junk Bonds ihr Tiefst bereits im Juni 2021 (vgl. Grafik oben).

Bondmarkt «riecht» Änderungen in der Geldpolitik früher

Der Bondmarkt hat die Verschärfung der monetären Rahmenbedingungen – das Fed hob die Zinsen ab März 2022 schneller und stärker an als erwartet – und die dadurch drohende Gefahr von zunehmenden Zahlungsausfällen also früher «gerochen» als der Aktienmarkt. Davon ist derzeit keine Spur, im Gegenteil – die Spreads sind weiter geschrumpft, nachdem sie bereits das Sommergewitter von Anfang August recht glimpflich überstanden hatten, als die Börsen wegen der Zinserhöhung der Bank of Japan eingebrochen sind.

«Die Rücksetzer Anfang August fielen relativ moderat aus, und seither konnten die Anleihenkurse der hochverschuldeten Unternehmen neue Allzeithochs erreichen», schrieb Daniel Haase vom Düsseldorfer Vermögensverwalter WBS Hünicke in seinem Empiria-Brief von Anfang September. «Konjunkturelle Sorgen scheinen die Gläubiger dieser hochverschuldeten Unternehmen derzeit nicht umzutreiben.» Dies im Gegensatz zum Aktienmarkt, der Anfang September aus Angst vor einem stärkeren Abschwung – sowohl der US-Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe als auch der Arbeitsmarktbericht fielen leicht schwächer aus als erwartet – einen leichten Rücksetzer einstecken musste und von defensiven Segmenten angetrieben wurde.

«Inzwischen zeichnet sich ab, dass der Anleihenmarkt die Oberhand behält und der Aktienmarkt die Anpassungsleistung in Richtung konjunktureller Zuversicht erbringen muss», schreibt Haase einen Monat später im aktuellen Empiria-Brief. Das zeige sich zum Beispiel bei konjunktursensitiven Industrie-, Finanz- und Rohstofftiteln, die vor dem MSCI Welt neue Höchst erklommen hätten, sowie an der Aufholbewegung kleiner und mittelgrosser Werte.

Dazu komme, dass Schwellenländerbörsen gegenüber dem S&P 500 vorne lägen. «Die Zunahme der Marktbreite sowohl in Richtung mittlerer und kleiner Aktien als auch regional über die Grenzen der USA hinaus nach Asien ist ein positives Signal und lässt einen erfreulichen Börsenherbst erwarten.» Dass gleichzeitig das Interesse an den grossen, meist amerikanischen Technologieaktien nachlasse, möge für die kapitalisierungsgewichteten globalen Aktienindizes und die ihnen passiv folgenden Indexfonds nachteilig sein, «für die Aktienmärkte als Ganzes ist es aber eher ein Vorteil».

Konsolidierung der Halbleiterwerte ebnet Weg für Jahresendrally

Das sieht auch der langjährige Marktbeobachter Alfons Cortés so: «Die Korrektur des DJ US Semiconductors war das wichtigste Börsenereignis des Jahres», hat er kürzlich auf The Market geschrieben. Sie habe die Blasenbildung im Halbleitersektor beendet und damit eine potenziell gefährliche Dynamik gebrochen. «Aus meiner Sicht befinden sich die Aktienmärkte dank dieser Korrektur in einer sehr guten Ausgangslage für ein starkes viertes Quartal», folgert er.

Zuversichtlich stimmt ihn, dass sich die Portfolios nicht mehr nur auf wenige Industrien ausrichten, sondern wieder breiter diversifiziert werden, was sich daran ablesen lasse, dass unter den fünfzehn stärksten Industrien sechs der insgesamt elf MSCI-Sektoren vertreten seien. Das signalisiere eine gute Marktbreite, «die den Schluss zulässt, dass die Handlungsmotivation darin liegt, dass die Umstände grundsätzlich positiv für die Anlageklasse Aktien eingestuft werden».

Zudem tendiere in den stärksten Industrien eine sehr hohe Anzahl Aktien nach oben, während selbst acht der fünfzehn schwächsten Branchen noch positive oder neutrale Trends aufwiesen. Weil elf der fünfzehn schwächsten Industrien aus Sektoren stammen, die auch unter den stärksten fünfzehn vertreten sind, folgert Cortés, «dass gedacht und gerechnet wird und nicht positive Rückkoppelungen die Käufer zu hektischem Treiben anleiten, was den klassischen Minsky-Moment herbeiführen würde».

Voraussetzungen für eine Baisse sind derzeit nicht gegeben

Gemeint sind die Bildung einer Blase in wenigen Industrien, wie sie bei Halbleiterwerten vor Einsetzen der Konsolidierung gedroht hatte, und ihr anschliessendes Platzen, das die breiten Indizes mit in die Tiefe ziehen würde.

Natürlich kann es anders kommen. Die wohl grösste Gefahr gehe von einer Eskalation des Krieges im Nahen Osten aus, schreibt Cortés, wobei die Börsen bereits ein ziemlich schlimmes Szenario einpreisen würden. Falls nicht ein wirklich unerwartetes Ereignis wie der Einsatz von Nuklearwaffen oder eine Intervention Russlands zugunsten des Irans eintrete, dürfte eine weitere Verschärfung der Krise allerdings nur temporäre Rücksetzer zur Folge haben.

«Das liegt daran, dass exogene Ereignisse wie ein geopolitischer Schock nur dann zu ausgewachsenen und lange dauernden Baissen führen, wenn die Märkte endogen die Voraussetzungen dafür geschaffen haben», zitiert Cortés den ETH-Professor Didier Sornette, der zur Bildung von Blasen und zu Crashs an den Börsen forscht. Zu den endogenen Voraussetzungen zählt eine vorausgegangene Abnahme der Marktbreite. Weil die Hausse derzeit aber nicht enger, sondern im Gegenteil breiter wird, steht ihrer Fortsetzung wenig im Weg.

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