Donnerstag, Mai 8

Ein Porträt des Ständemehrs.

Das Ständemehr ist gebaut, um die Schweiz zusammenzuhalten. Aber sobald es greift, gibt es zwei Schweizen. Zuletzt waren sie zu besichtigen im Herbst des Jahres 2020, als aus den Meinungsforen der Stadtkantone die damalige Juso-Präsidentin Ronja Jansen twitterte: «Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.» Der grüne Historiker Jo Lang schrieb bereits eine vorgezogene Grabrede: «Das Ständemehr ist historisch überholt.» Sofort erklang aus den Meinungsforen der Landkantone das Echo. Das Schweizer Fernsehen zeigte Edy Marty, den damaligen Gemeindepräsidenten von Unteriberg, Kanton Schwyz, auf seinem Bauernhof zwischen den Kühen. Er gab zurück: «Wenn man verliert, verliert man. Fertig, Schluss und amen. Dann muss man nicht hinterher einer toten Kuh ins Füdle blasen.»

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Am Tag davor hatte die Mehrheit des Volks zwar für die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative gestimmt, aber sie war dennoch durchgefallen: weil in der Schweiz auch die Mehrheit der Stände (Kantone) überzeugen muss, wer die Verfassung umschreiben will. Die Gründe liegen in der Geschichte. Der Bundesstaat von 1848 ist eine Vereinigung von kantonalen Demokratien, die gemeinsam eine nationale Demokratie bilden – ohne sich deswegen aufzulösen. Es gilt nicht nur das Prinzip der Demokratie, sondern auch das Prinzip des Föderalismus.

Zwar haben erst zehn Mal in der Geschichte die Stände das Volk überstimmt. Aber seit den 1970er Jahren häufen sich die Fälle, und deshalb wird immer heftiger gestritten: Zeigt sich in solchen Momenten die demokratische Schwäche der Schweiz? Oder eben gerade ihre föderale Schönheit?

In diesen Tagen spaltet das Ständemehr das Land, obwohl gar keine Abstimmung stattgefunden hat. Auch der Bundesrat soll gespalten sein, im knappest möglichen Verhältnis von 4:3 – er berief eine Medienkonferenz ein und delegierte den Aussenminister Ignazio Cassis und zwei Experten aus der Verwaltung, um das Land von seiner Entscheidung zu überzeugen: In der Abstimmung über das Vertragspaket mit der Europäischen Union, der vielleicht wichtigsten Frage der kommenden Jahre, komme es nur auf das Volk, aber nicht auf die Stände an. Es gelte also nicht das obligatorische, sondern nur das fakultative Referendum.

Aus Sicht der städtisch-progressiven Schweiz, die den EU-Verträgen mehrheitlich entgegenfiebert, hat der Bundesrat endlich leadership gezeigt. Und das Ständemehr vorerst überwunden, dieses Hassobjekt aller selbsterklärten Reformer. Aus Sicht der ländlich-konservativen Schweiz, die die EU-Verträge mehrheitlich verwerfen wird, hat der Bundesrat einen «Riesenskandal» (SVP-Präsident Marcel Dettling) produziert. Und fatalerweise das Ständemehr missachtet, diese letzte Hoffnung aller selbsterklärten Bewahrer.

Tatsächlich lässt sich am Ständemehr die Geschichte der schweizerischen Kämpfe und Krämpfe erzählen.

Folge man seinen Launen

Als im Jahr 1848 im Empire-Saal des Äusseren Stands in Bern die Revisionskommission eine neue Schweiz verfassen soll, geht es auch darum, ob die Logik der alten Schweiz weiterhin gelten wird. Das Land hat einen Bürgerkrieg hinter sich, in dem die liberalen Kantone über einen katholisch-konservativen Sonderbund aus Innerschweizern, Wallisern und Freiburgern siegten. Jetzt geht es darum, wie eine gemeinsame Zukunft möglich wäre: Wie viel Macht steht den Kriegsgewinnern zu? Und wie viel den Verlierern? Wie soll ein Vielvölkerstaat ausbalanciert werden, der nicht durch eine gemeinsame Kultur, sondern nur durch gemeinsamen Willen zusammengehalten werden kann?

Die Protokolle von damals, die der Historiker Rolf Holenstein in seinem Buch «Stunde Null» erschlossen hat, zeigen einen sehr heutigen Frontverlauf: In langen Debatten wird verhandelt, wie der politische Frieden im Land am ehesten gewährleistet werden könnte – einzig durch einen Rat von Volksvertretern (Nationalrat), eher durch einen Rat von Kantonsvertretern (Ständerat) oder durch ein System, das diese beiden Räte kombiniert. Henri Druey, der Gesandte der Waadt, ein späterer freisinniger Bundesrat, plädiert heftig gegen den Einfluss der alten Kantone: «Alle Schweizer befinden sich in gleicher, eidg. Stellung. Es wird das Nationalgefühl entwickelt.» Aus der Innerschweiz klingt es anders. Der Bundesstaat ist in Gefahr, bevor es ihn gibt. Melchior Diethelm, der Gesandte des Kantons Schwyz, formuliert es so: «Natur und Geschichte machen den Schuz des Föderativsystems zur Pflicht. Folge man seinen Launen, so wird das neue Gebilde nicht länger dauern als die alten gedauert haben.» Diethelm – ein Liberaler, der die konservativen Schwyzer vertritt – wird später vorschlagen, das Zwei-Räte-System aus Amerika zu kopieren. Unbestritten ist schliesslich, dass es zur Revision der neuen Verfassung eine absolute Mehrheit aus Volk und Ständen braucht.

Es ist ein sehr schweizerischer Kompromiss, der aber immer wieder errungen werden muss: Wie stark soll ausgerechnet die katholisch-konservative Minderheit geschützt werden in einem Land, in dem sich alle in der Minderheit sehen?

Ohnehin undemokratisch

Wer das Ständemehr ablehnt, kann leicht argumentieren: Die Schweiz habe die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts überwunden. Wenn schon, müssten andere Minderheiten geschützt werden, etwa die welsche Schweiz. Und nicht die Kantone, die durch den Ständerat und die Konferenz der Kantonsregierungen bereits überrepräsentiert seien. Ohnehin sei das Ständemehr ein Relikt: ein undemokratischer Verstoss gegen das Prinzip von «one (wo)man, one vote».

Der Politikprofessor Adrian Vatter von der Universität Bern bezeichnet das Ständemehr als «heiligen Gral des Föderalismus». Er sieht es kritisch, «weil es nicht mehr seine ursprüngliche Funktion erfüllt»: «Es orientiert sich an einer uralten Konfliktlinie, während neuere Konfliktlinien gar keine Rolle spielen.» Noch im 19. Jahrhundert hätten teilweise kantonale Regierungen oder Parlamente entschieden, wie die Standesstimme laute – und nicht das Volk. Vatter ist eine eidgenössische Abstimmung bekannt, in der die Bevölkerung von Freiburg zwar Ja stimmte, das Parlament von Freiburg als Standesstimme aber ein Nein eingab. In Uri oder Obwalden wurde die Standesstimme an der Landsgemeinde festgelegt, wo sogenannt «neu zugezogene, kantonsfremde Schweizerbürger» nicht teilnehmen konnten. Inzwischen haben sich diese kantonalen Eigenheiten nahezu aufgelöst in einem grossen, eidgenössischen Ganzen.

Zudem sei das Ständemehr, sagt Vatter, demokratiepolitisch problematischer geworden. Weil die politischen Akteure gemerkt hätten, dass es in Abstimmungen mit Ständemehr gelegentlich auf wenige kleine Kantone ankomme, finde regelmässig eine Art Mini-Demokratie statt: Die Kampagnen würden auf jene wenigen tausend ausgerichtet, die entscheidend sind. Zudem sind in den vergangenen Jahrzehnten die grössten Kantone noch grösser geworden und die kleinsten Kantone klein geblieben – was die Balance zusätzlich bedrohe. Nicht zuletzt deshalb würden sich Ständemehr-Kollisionen häufen.

Als es in den 1970er Jahren eine erste Kollisionswelle gab, entstand auch die prominente Ständemehr-Kritik. Nationalrat Franz Jäger vom Landesring der Unabhängigen wollte es mit dem Argument abschaffen, dass «kleine Minderheiten, die vielfach von einer Vorlage nur am Rande berührt werden» de facto über eine «Reformbremse» verfügten. Aus seiner Initiative wurde nichts, auch wenn sie immer wieder neu aufgelegt wurde. Zuletzt sagte der grüne Nationalrat Balthasar Glättli, die alten konfessionellen Gräben gebe es nicht mehr – «die grösste Stadt der Schweiz mit einer katholischen Mehrheit ist heute die Zwingli-Stadt Zürich».

Gerade schreibt Adrian Vatter gemeinsam mit Rahel Freiburghaus für ein neues Buch wieder darüber, wie sich das Ständemehr reformieren liesse. Vorschläge gäbe es genug: Die Kantone könnten künftig demografisch gewichtet werden und eine, zwei oder drei Standesstimmen bekommen; die Städte könnten eine Standesstimme erhalten, oder es könnte jenes Mehr (Stände oder Volk) obsiegen, das eindeutiger ausfalle. Aber er weiss: «Alle Reformbestrebungen sind rein akademisch.» Denn für eine Reform oder eine Abschaffung des Ständemehrs brauchte es: ein Ständemehr.

Bedrohte Willensnation

Zudem kann auch leicht argumentieren, wer das Ständemehr befürwortet: Wer die Bedeutung der Kantone herunterspiele, verstehe die Schweiz nicht. Die Kantone müssten sich wehren können, wenn ihre Rechte beschnitten würden. Das Ständemehr sei eben nicht das Relikt aus einem Konfessionskrieg, sondern ein historisch gewachsenes Vetorecht des Landes gegenüber der Stadt – Frühformen davon gab es schon vor dem Sonderbundskrieg. Es sorge dafür, dass der Graben zwischen den urbanen Zentren und der ländlichen Provinz nicht so gross sei wie in anderen Ländern.

Der langjährige Landammann von Appenzell Innerrhoden, Roland Inauen, gehört zu den grössten Profiteuren des Ständemehrs: Sobald es gilt, hat seine Stimme vierzigmal so viel Gewicht wie die einer Zürcherin. Natürlich ist man sich dessen im historischen Halbkanton Innerrhoden bewusst, man strebe deshalb (anders als etwa Basel-Stadt) keinen zweiten Ständeratssitz an. Das Ständemehr hält Inauen aber nicht nur als Innerrhoder für eine zentrale Einrichtung: «Es gleicht die Divergenzen zwischen Stadt und Land aus, die unseren Staat seit Beginn begleiten.» Die Gegenreflexe versteht er, «gerade wenn man sich in die Haut der Romands versetzt», und doch findet er es «für den politischen Frieden in der Schweiz enorm relevant». In diesem Sinn ist die Frage des Ständemehrs weniger eine staats- als eher eine identitätspolitische.

Das Land wird urbaner, die Städte wachsen so stark wie nie, und weil es leichter geworden ist, sich zu bewegen, zentralisiert sich auch die Wirtschaft in den Zentren. Und so bewegen sich die Realitäten von Stadt und Land auseinander: Das ist die Schweiz im Jahr 2025. Die Frage ist, ob das politische System diese Entwicklung abbilden oder ausgleichen soll. Auf dem Land sieht man das Ständemehr als Korrektiv: gegen wirkmächtige Institutionen, die städtisch dominiert sind – die Verwaltung, wichtige Medien, Verbände, NGO.

Roland Inauen sagt es so: «Wenn die bevölkerungsstarken Zentren die bevölkerungsschwachen Regionen immer überstimmen könnten, wäre die Willensnation bedroht.»

In der Vergangenheit hat der Bundesrat deshalb auch Abstimmungen einem Ständemehr unterstellt, die nicht danach verlangt hätten. Als die Schweiz im Jahr 1992 über die EWR-Verträge abstimmte, wägte er lange ab: Zwar handle es sich hier nicht um einen Beitritt zu einer «supranationalen Gemeinschaft» – was ein Ständemehr zwingend erfordert hätte –, und doch plädiere man genau dafür. Begründung: Die Verträge enthielten «supranationale Elemente», und vor allem sei das Abkommen «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land».

Man geht nicht auf die Barrikaden

In diesen Tagen, und was das gegenwärtige EU-Vertragspaket betrifft, hat der Bundesrat anders entschieden – und mit Ausnahme von Schwyz (und teilweise Nidwalden) schienen sich die Kantone bisher zu fügen. Der Berner Politikprofessor Adrian Vatter sagt: «Hätten sie sich gewehrt, wäre die Diskussion im Bundesrat anders verlaufen.»

Ob sich das jetzt ändert, da sich der Bundesrat gegen das Ständemehr ausgesprochen hat? Roland Inauen, der langjährige Innerrhoder Landammann, sagt: «Wir sind nicht die, die auf die Barrikaden gehen.» So wichtig das Ständemehr im Allgemeinen sei, so dürfe man es im Speziellen nicht überstrapazieren. So klingt es zumindest in Innerrhoden, wo die Politik nicht nach Parteilogik funktioniert. In anderen ländlichen Kantonen, wo die SVP stark ist, dürfte die Empörung grösser sein.

Was rechtlich gilt, ist unklar. Am Ende entscheidet das Parlament darüber, ob es doch noch ein Ständemehr gibt. Wer darin die letzte Hoffnung sieht, weiss immerhin, an wen er sich wenden muss: Denn nicht nur das Ständemehr erhöht das Gewicht der kleineren gegenüber den grösseren Kantonen – sondern auch der Ständerat.

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