Wahlen finden nicht statt, das demokratische Leben ist gestoppt. Im Krieg scheine das unvermeidlich, schreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow. Doch sei es um die Rechtsstaatlichkeit im Land nicht zum Besten bestellt.
«Vor dreissig Jahren musste ich dem Einberufungsamt beweisen, dass ich völlig gesund war, um an einer Militärakademie zu studieren, und jetzt muss ich belegen, dass ich krank bin, um nicht eingezogen zu werden. Vor dreissig Jahren war ich mit Leib und Seele für die freie Mutter Ukraine, und jetzt möchte ich mit Leib und Seele dieses Gebiet für immer verlassen», sagt mir ein Mann namens Nikolai, der seine Heimat ein «Gebiet» nennt.
Es beunruhigt mich, dass ich in den letzten Monaten gleich mehrere Leute getroffen habe, die bekundeten: «Wir leben in einem schrecklichen Land, und ich weiss gar nicht, wofür wir eigentlich kämpfen. Es wäre wohl besser, sich schon jetzt Putin anzuschliessen. Es würde ohnehin nicht schlimmer, denn schlimmer kann es gar nicht kommen.» Es verstört mich noch mehr, dass sie dies nicht sagen, um mich von ihrer Ansicht zu überzeugen, sondern so, als ob sie sicher seien, dass ich, ein Fremder, dieselbe Ansicht verträte wie sie.
Vor einem Jahr wäre solches noch undenkbar gewesen. Und es sind nicht nur die Entbehrungen des Krieges oder das Gift der russischen Propaganda, welches durch das dafür idiotischerweise nur halb gesperrte ukrainische Internet sickert. Das Problem liegt tiefer: Der ukrainische Staat macht ernsthaft etwas falsch.
Wie war das noch gleich zu Beginn der beschämenden Putinschen «Spezialoperation»? «Wir kommen, um die russischsprachigen Bürger der Ukraine zu verteidigen!» Und schon bald verkündeten Putins Scharfmacher, dass ukrainische Kinder ertränkt und verbrannt werden müssten. Die Entwicklung von «verteidigen» zu «ertränken und verbrennen» dauerte nur sieben Monate, während deren wir die Schrecken von Mariupol, den Beschuss von Charkiw, das Massaker in Butscha und vieles mehr erlitten.
Organisierte Hungersnot
Die Ukrainer haben immer ihr Land geliebt, aber nie ihren Staat. Als es diesen Staat noch nicht gab, träumten sie davon, ihn zu schaffen, aber das heisst nicht, dass sie ihn jetzt lieben. Es ist nur so, dass die Staaten anderer Völker immer viel schlimmer waren als ihr eigener. In den frühen dreissiger Jahren organisierte der sowjetische Staat zum Beispiel absichtlich eine Hungersnot, an der jeder neunte Bürger in der Ukraine starb. Wenn jeder neunte Bürger aus Mangel an Nahrung stirbt, bedeutet das, dass jeder zweite oder dritte am Rande des Verhungerns steht. Es lassen sich noch viele weitere üble Beispiele anführen.
Leider ist der ukrainische Staat in den dreiunddreissig Jahren seiner Unabhängigkeit (was keine Kleinigkeit ist, sie umfassen bereits das Leben Christi) nie wirklich demokratisch gewesen.
Ein Militär-Blogger, dem ich oft zuhöre, bezeichnete die Ukraine kürzlich sogar als oligarchisches Konzentrationslager. Dabei verglich er die Ukraine mit Dänemark, einem Land, in dem alles zum Wohle des Volkes organisiert ist. Das ist natürlich eine Übertreibung, aber wenn die Ukraine wirklich ein oligarchisches Konzentrationslager sein sollte, dann eines, wo die schlauen, im Herzen und in der Seele freien Insassen alle Wachtürme niedergerissen und riesige Löcher in den Stacheldraht geschnitten haben – was zu einer Art von Demokratie führte.
Wäre dies nicht der Fall, hätte der Blogger niemals die Gelegenheit gehabt, solche Worte vor dem ganzen Land zu äussern. In der Ukraine herrscht Meinungs- und Redefreiheit, auch jetzt, während des Krieges. Diese Freiheit indes ist stark eingeschränkt, aber das ist in Ordnung, denn jeder weiss, dass Krieg herrscht.
Es ist normal, wenn die Demokratie in diesem Ausnahmezustand auf Eis gelegt wird. Der Ausdruck «auf Eis gelegt» bedeutet jedoch, dass die Demokratie vorher da war und jetzt suspendiert ist; wenn alles vorbei ist, wird sie wie durch einen Schalter wieder aktiviert und überströmt wieder alle Bürger mit ihrem sanften Licht. Leider stellt sich die Situation der Demokratie in der Ukraine etwas schlechter dar.
Weder Ameisen noch Bienen
Eines der Schlüsselelemente von Demokratie sind freie und faire Wahlen. Derzeit finden in der Ukraine keine Wahlen statt, und wahrscheinlich wird es auch noch lange Zeit keine geben. Den Ukrainern ist dies im Grunde genommen ziemlich egal. Was wir aber wissen: Wenn jemand versucht, uns für immer unserer Wahlmöglichkeit zu berauben, werden wir eine weitere Revolution anzetteln, und dieser jemand wird fliehen müssen, wie es ein ukrainischer Präsident bereits getan hat. Ein weiterer Putin oder Lukaschenko wird in der Ukraine niemals sonnengleich den Aufstieg feiern.
Ein weiteres Merkmal der Demokratie ist der politische und kulturelle Pluralismus. Natürlich ist ein echter Pluralismus während des Krieges fast unmöglich, aber jetzt wird in der Ukraine an dessen Stelle etwas Hässliches aufgebaut: eine Gesellschaft mit universeller patriotischer Identität, ein ideologischer Zustand patriotischer Einmütigkeit. Leider wird dies mit Blick auf die Zukunft betrieben, auf die Jahrzehnte, die nach dem Krieg kommen werden.
Die nationale Identität ist plötzlich zu einem so hohen Wert geworden, dass die Hochschulen des Landes nun Spezialisten für die Stärkung der ukrainischen Identität ausbilden, sprich Leute, die hauptberuflich zur Stärkung unserer Identität da sein sollen. Und was ist mit jenen, die nicht «identisch» sein wollen? Was sollen die tun, die individuell bleiben und sich von anderen unterscheiden wollen? Was ist mit denjenigen, die auf ihrer eigenen Meinung beharren? Wir sind schon identisch genug, indem wir Putins Invasoren hassen und unsere Heimat lieben. Man mache uns bitte nicht noch identischer. Wir sind weder Ameisen noch Bienen.
Die Transparenz der Regierung bei der Entscheidungsfindung ist ebenfalls ein Merkmal der Demokratie. In der Ukraine machen die Behörden traditionell, was sie wollen, ohne sich herabzulassen, das Volk zu konsultieren oder ihm etwas zu erklären. Eines Tages verschwindet plötzlich der bei den Leuten beliebte Oberbefehlshaber, dasselbe geschieht mit dem verhassten Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, dem allseits verachteten Verteidigungsminister und vielen anderen Ministern, die man kaum kennt. Aber keinem der Repräsentanten der Macht kommt in den Sinn, dem Volk diese Umbauten im schmierigen Motor der Verwaltung irgendwie zu erklären. Die ukrainischen Behörden waren schon immer so weit vom Volk entfernt wie die Sterne vom Meeresgrund.
Die staatlichen Institutionen sollten in ihrem Wirken transparent sein und der Öffentlichkeit, der sie dienen, Rechenschaft ablegen. Dieses Element der Demokratie ist nicht auf Eis gelegt worden, denn es war noch nie funktionstüchtig. Beamte in der Ukraine haben in der Kommunikation mit dem Volk schon immer gelogen. Sie haben vor dem Krieg gelogen, sie haben während des Krieges gelogen, und sie werden auch nach dem Krieg schamlos lügen.
«Wenn der Frühling kommt, werden wir sie ins Gefängnis stecken», sagte der Präsidentschaftskandidat Selenski im Jahr 2019. Dieses Versprechen sollte 2020 in die Tat umgesetzt sein. Nichts dergleichen ist geschehen.
«Wir stehen am Ende der Ära der Armut», versprachen Selenskis Wahlplakate. Dieses Ende ist nie eingetreten.
Kurz vor Kriegsbeginn, als er wusste, dass die russische Invasion unvermeidlich kommen würde, sagte Selenski etwas, was man ihm nie verzeihen wird. Er versicherte, es werde keinen Krieg geben, und im Mai würden wir alle grillieren gehen. Die Menschen glaubten ihm, und allein das kostete das Land Zehntausende von Menschenleben.
Hier ein weiteres Beispiel. «Wir sind ein demokratischer Staat», verkündete Selenski am 9. Februar 2023 in Brüssel. «Wir können nicht ein Beispiel abgeben wie Russland, das jemanden mit Stöcken in den Krieg prügelt. Wir sind nicht diese Art von Land.»
Die Plage der Mobilisierung
Nun stellt sich heraus, dass wir es doch sind. Der ukrainische Historiker Ihor Schwez kommentiert ein Video, in dem drei Mobilisierungsbeamte einen Mann zu Boden stossen und dann anfangen, ihn zu treten. Sie traktieren ihn abwechselnd, auch wenn er wehrlos auf dem Boden liegt. Der Historiker ist überrascht, dass sich niemand für das Opfer dieser Misshandlung einsetzt. Was er beschreibt, ist nur einer von Tausenden von Fällen der «Einbussung», sprich des Aufgreifens von Menschen auf offener Strasse unter Anwendung von Gewalt, ihrer Einpferchung in Kleinbusse und des späteren Transfers an die Front. Solches geschieht jeden Tag in ukrainischen Städten und Dörfern. Der ukrainische Ombudsmann hat allein in diesem Jahr 1600 Beschwerden über das Vorgehen der «Einbusser» erhalten.
«Was kommt als Nächstes?», fragt der Historiker. «Was wird aus der Ukraine werden? Ehrlich gesagt, es ist beängstigend.»
Ich persönlich bin keineswegs überrascht, dass die Leute sich nicht für einen Mann einsetzen, der geschlagen wird. Wenige würden gegen eine Bande von Kriminellen, die Waffen in den Händen halten, mit Schlägen vorzugehen versuchen. Die «Einbusser» sind, auch wenn sie dem Land dienen, Kriminelle, denn es gibt kein Gesetz, das es ihnen erlaubt, Leute zu verprügeln, sie zu schikanieren, zu demütigen, ihnen Handys und Dokumente wegzunehmen. Sie sind Kriminelle, die den Befehl «Hol sie dir!» von einem Staat erhalten haben, der nicht wirklich versucht, eine anständige, legitime Mobilisierung zu organisieren.
Eines der unabdingbaren Merkmale der Demokratie ist die Rechtsstaatlichkeit. Auch sie ist derzeit auf Eis gelegt. Es ist dieser Umstand, der den Ukrainern im Moment grösste Sorge bereitet. Vor ein paar Tagen zuckte ein Klempner, der in unserer Wohnung einen Wasserhahn wechselte, zusammen, als er hörte, dass eine unserer Katzen Bursik heisst. Die Sache ist die, dass dieser Name nach «busik», Kleinbus, tönt, und das Wort «busik» darf, so wie der Name von Lord Voldemort in «Harry Potter», nicht ausgesprochen werden. So ist es derzeit um die Realitäten der ukrainischen Demokratie bestellt.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.