Dienstag, Oktober 22

Jüngst haben im Himalaja gleich mehrere einheimische Alpinisten Bestmarken auf den höchsten Gipfeln der Welt aufgestellt, unter ihnen ein 18-Jähriger. Dabei gab es früher Leute, die über eine angebliche Unzuverlässigkeit der Nepalesen spotteten.

In Nepal haben sich die Nachrichten Anfang Oktober wegen dieser zwei Zahlen überschlagen: 8000 und 14. Es ging um die höchsten Berge der Welt und um jene Menschen, die sämtliche vierzehn Achttausender in bestimmten Kategorien als jeweils Erste bestiegen haben.

Unter ihnen war die erste Frau aus Nepal: Dawa Yangzum Sherpa. Oder der mit 18 Jahren weltweit Jüngste, der die Liste der Achttausender abgearbeitet hat: Nima Rinji Sherpa, ein Nepalese. Oder der erste Nepalese, der auf den höchsten vierzehn Bergen ohne künstlichen Flaschensauerstoff gestanden ist: Mingma Gyalje Sherpa alias «Mingma G».

Als eine «triumphale Heimkehr» beschrieb die in Kathmandu erscheinende Tageszeitung «The Himalayan Times» den Empfang der erfolgreichen Alpinisten bei deren Rückkehr am Flughafen der Hauptstadt. Für sie alle war die Shishapangma in Tibet (8027 Meter) der letzte Achttausender, der ihnen noch gefehlt hatte.

Die Agenturen machen mit den Gipfelerfolgen ihrer einheimischen Guides Werbung

Bernadette McDonald hat ein Buch über die einheimischen Bergsteiger im Himalaja und im Karakorum geschrieben. Sie sagt der NZZ: «Die Achttausender bedeuten für jeden, der dieses Ziel verfolgt, eine Menge. Aber für die Nepalesen sind Erfolge an diesen Bergen ein echter Wendepunkt.»

Mit solch einer Leistung im Gepäck sei es einfacher, an Sponsoren zu kommen. Nepalesen, die sich mit einem Rekord schmücken könnten, würden innerhalb ihrer Gemeinschaft markant mehr Respekt erfahren. Und über das Führen am Berg hinaus täten sich weitere Geschäftsmöglichkeiten auf. Was auch Expeditionsagenturen für ihre Zwecke nutzen.

Die Schweizerin Josette Valloton berichtet: «Die Agenturen machen mit den Gipfelerfolgen ihrer Guides Werbung.» Die aus dem Wallis stammende Valloton kann ebenfalls mit einem Rekord aufwarten: Sie krönte sich in diesem Jahr zur weltweit ersten zertifizierten Bergführerin, die alle Achttausender bezwungen hat.

Es ist noch gar nicht lange her, da galten Nepalesen am Berg primär als Hilfspersonal, das die schweren Lasten trägt und Fixseile anbringt und das zu tun hat, was ihnen aufgetragen wird. Standen Einheimische mit westlichen Bergsteigern auf dem Gipfel, verbuchten Letztere den Erfolg in ihren Berichten oft für sich. Es hat einen Grund, weshalb das Buch von Otto C. Honegger und Frank Senn über die Sherpas am Everest mit dem Untertitel «Die wahren Helden vom Everest» versehen wurde.

Es gab auch Leute, die über eine angebliche Unzuverlässigkeit der Einheimischen spotteten. Ob tatsächlich ganz oben oder ein paar Meter unter dem Gipfel, das sei ihnen egal, konnte es heissen. Sie nähmen es nicht so genau mit dem Gipfel, wurde gelästert, etwa, als im Herbst 2016 am Manaslu (8163 Meter) die Hochträger, die mit dem Verlegen der Fixseile betraut waren, eine Stelle deutlich unterhalb des höchsten Punktes zum Gipfel erklärten.

Die Expeditionsteilnehmer machten dort dann kehrt. Zwar stellte ihnen das Tourismusministerium in Kathmandu ein Zertifikat für die erfolgreiche Manaslu-Besteigung aus. In der «Himalayan Database» ist bei ihnen aber der Zusatz «fore-summit only» vermerkt, «nur Vorgipfel».

Rekord-Urkunden haben in Nepal einen viel höheren Wert als in Zentraleuropa

Für Mitarbeiter in einem Ministerium mag das vielleicht keinen Unterschied machen. Doch den tatsächlich höchsten Punkt zu erreichen, ist Teil der bergsteigerischen Ethik. Aber nicht nur das: Das Unternehmen, das das «Guinness-Buch der Rekorde» publiziert, vergibt Rekord-Zertifikate nur, wenn nachweislich der Gipfel erreicht wurde. Und Rekord-Urkunden haben in Nepal einen viel höheren Wert als zum Beispiel in Zentraleuropa.

Kenntnis aus der Praxis und Routine zählen bei Expeditionsteilnehmern, die keine Vorstellungen haben vom Bergsteigen, mehr als eine zertifizierte Bergführer-Ausbildung. Das bestätigt Kami Rita Sherpa, der als Alpinist mit den meisten Everest-Besteigungen gilt. «Weil ich schon dreissig Mal auf dem Everest stand, wollen die Leute mit mir hinaufsteigen», sagt er. Deshalb präsentieren Nepalesen eine Urkunde von «Guinness» in den sozialen Netzwerken mit besonderem Stolz.

In Nepal achtet man unterdessen peinlichst genau darauf, alles richtig zu machen. Als immer mehr Indizien dafürsprachen, dass über viele Jahre Bergsteiger am Manaslu den Gipfel verfehlt hatten, weil sie nicht erkannten, dass hinter dem vermeintlichen Gipfel noch eine höhere Spitze emporragte, reagierten gefeierte und hochverehrte Bergsteiger aus Europa pikiert. «Wie könne man anzweifeln, dass sie den Gipfel verfehlt hätten?», meinten sie.

Ralf Dujmovits, der erfolgreichste deutsche Höhenbergsteiger, sagte, er würde nicht noch einmal aufsteigen, sollte nachgewiesen werden, dass er 2004 nicht auf dem tatsächlich höchsten Punkt gestanden sei. Dass Dujmovits im Herbst 2022 noch einmal an den Manaslu reiste (eine Expedition, die er aufgrund der objektiven Gefahren aber abbrach), hat mit Mingma G zu tun, jenem Nepalesen, der ohne Flaschensauerstoff auf alle Achttausender gestiegen ist.

Während andere dementierten und spekulierten, schritt Mingma G zur Tat. Ihm liessen die Recherchen von Chronisten keine Ruhe, wonach der Gipfel des Manaslu ein anderer sei als der Punkt, von dem die meisten Bildaufnahmen stammten. Im Herbst 2021 hatte Mingma G den tatsächlich höchsten Punkt erreicht – eine Spitze, auf der seit 2012 niemand mehr gestanden war und zuvor nur ein Teil der Manaslu-Besteiger. Der australische Alpinist Jackson Groves dokumentierte das mit eindrucksvollen Drohnenaufnahmen.

Die Einheimischen drängen in die vorderste Reihe – es locken weitere Einträge in die Geschichtsbücher

Mingma G demonstrierte, dass den Nepalesen am Berg einiges zuzutrauen ist. Die Schweizerin Josette Valloton sagt über sie: «Viele von ihnen sind gute Alpinisten. Sie lernen sehr schnell, sind anpassungsfähig, und es mangelt ihnen nicht an Energie.» Den Beweis dafür haben sie in diesem Herbst erbracht.

Für die Zukunft könnten diese Erfolge auch andere animieren. Die Autorin Bernadette McDonald vermutet: «Wir werden weniger Sherpas sehen, die im Himalaja führen, und mehr Nepalesen anderer ethnischer Gruppen, die deren Platz einnehmen werden.»

Die Einheimischen drängen in die vorderste Reihe und zeigen, was an den höchsten Bergen möglich ist. Erst in diesem Frühjahr hat ein nepalesisches Sherpa-Team von Süden aus eine neue Route auf den Cho Oyu (8188 Meter) eröffnet.

Aber es gibt noch viel mehr Möglichkeiten, um in die Geschichtsbücher des Himalaja-Bergsteigens einzugehen. Da wäre zum Beispiel die Überschreitung von Nuptse, Lhotse und Everest. Oder eine neue Route, die durch die Ostwand des Everest führen könnte. Zuzutrauen wäre ein solcher Coup durchaus auch einem Nepalesen.

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