Die Pulitzerpreisgewinnerin Jhumpa Lahiri beschreibt den italienischen Rassismus der Gegenwart so sanft und klar, dass es einem das Herz bricht. Ein Buch wie ein schmerzhafter Spaziergang durch Rom.

Jhumpa Lahiri will keine politische Autorin sein. In einem Interview sagt sie: «Ich versuche, Menschen aller Art zu erschaffen und sie in spannende Situationen zu bringen. Es ist nicht mein Ziel, eine Botschaft zu vermitteln.» Mag sein, dass das bloss die Koketterie einer Pulitzerpreisträgerin ist. Denn: Sie tut es doch.

Rom an einem sonnigen Septembertag. Zwei alte Freundinnen treffen sich auf dem Ponte Sisto. Eine ist weiss und hat eben ihren Vater verloren, das ist der Anlass für das Treffen. Die andere ist schwarz und Professorin und will die Freundin trösten. Die Frauen gehen gemeinsam über die Brücke und in eine kleine Trattoria. «Und was bringen wir der Moretta?», fragt die Wirtin, ohne die Professorin dabei anzusehen. Was die Wirtin mit «Moretta» genau gemeint habe, fragt die Professorin später ihre Freundin. «Gib da nichts drauf, das sagt man hier zu allen Dunkelhaarigen», antwortet die Freundin.

Namenlose Fremde

Lahiri schildert das Mittagessen der beiden Freundinnen, den Versuch der weissen Frau, das Verhalten der Wirtin zu verharmlosen, das Unbehagen der Professorin zu zerstreuen, in einfachen, klaren Sätzen. Nie wertend, stets beobachtend.

«Das Wiedersehen» ist eine von neun Kurzgeschichten, die die amerikanische Autorin Lahiri in einer Anthologie gebündelt hat. Wie bereits ihren letzten Roman, «Whereabouts», hat Lahiri, die mehrere Jahre mit ihrer Familie in Rom lebte, auch diesmal in ihrer Wahlsprache Italienisch geschrieben. «Racconti romani» erschien 2022 auf Italienisch, ein Jahr später zu einem Grossteil von Lahiri selbst übersetzt auf Englisch und wurde nun von Julika Brandestini ins Deutsche übertragen. Die deutsche Ausgabe ist nach der Erzählung vom Mittagessen «Das Wiedersehen» benannt.

In ihren römischen Geschichten erzählt Lahiri nicht in erster Linie von Rom. Sie erzählt vom Fremdsein, vom Sich-selbst-fremd-Werden oder von dem Versuch, die Fremdheit abzulegen und anzukommen. In einer neuen Stadt, in einer ungewohnten Sprache oder in einem Leben, das man sich doch einst so anders erträumt hatte.

Die meisten von Lahiris Figuren kamen nicht in Rom zur Welt, sondern wurden vom Leben irgendwann dorthin gespült. Sie bleiben in allen Geschichten namenlos und dadurch auf Distanz, austauschbar. Auch Rom ist nicht zwingend. Es könnte auch eine andere grosse Stadt in einem anderen europäischen Land sein.

Was bleibt, ist der Rassismus

Klar und konstant bleibt nur der Rassismus, den Lahiri in einer so schlichten, emotionslosen Sprache wiedergibt, dass es umso stärker schmerzt. Am meisten in der Erzählung mit dem Titel «Helle Wohnung».

Lebensverändernd fühlt es sich für den Ich-Erzähler an, als er mit seiner verschleierten Frau und den fünf Kindern in eine lichtdurchflutete Sozialwohnung zieht. Fünfzig Quadratmeter im ersten Stock eines Wohnblocks hat der italienische Staat der Familie zugewiesen. Ein Wand und Tür und Zimmer gewordener Traum. «Ein bisschen Drogenhandel war vor dem Haus, aber nun ja, das passiert auch in der Innenstadt, auf den Piazze in den guten Gegenden.»

Doch die scheinbar positive Veränderung im Leben der Familie dunkelt rasch nach. Eines Abends versperren die Nachbarn ihnen den Eingang. «Packt eure Koffer», rufen sie. Schliesslich schafft es die Familie zur Tür. Aber an diesem Abend können die Kinder nicht mehr aufhören zu weinen. Auch jene Nachbarn, die es erst gut meinten mit der Familie, ziehen sich nun zurück.

Die Situation wird so schlimm, dass sogar die lokalen Zeitungen berichten. Während alle über die Familie reden, verstummen deren Kinder. Und die Frau getraut sich kaum noch vor die Tür. In einem Zeitungsartikel sagt eine der Nachbarinnen: Leute wie diese Familie machen ihr Angst.

Schliesslich kehrt die Frau mit den Kindern in die unbenannte Heimat zurück, vorübergehend, sagt sie und weiss, dass es nicht stimmt. Bis zu ihrer Rückkehr werde er Geld verdienen und eine neue Wohnung finden, verspricht der Erzähler und weiss, dass er es nicht schafft. Lahiri, die so präzise Andeutungen macht, dass sie eine Geschichte nie komplett ausformulieren muss, endet die Erzählung mit dem Satz: «In Erwartung des Zuges, der sich nähert, denke ich nur an schöne Dinge und an den roten und gelben Mohn, der zwischen den Gleisen unter meinen Füssen wächst.»

Die Geschichte hinter dem Verhalten

Lahiri zieht mit ihren Geschichten den Vorhang auf, macht die Sicht auf die Bühne dessen frei, was hinter der Fassade eines Menschen passiert. Auf seine Vergangenheit und auf Emotionen, die er sich nicht anmerken lässt. Die Erniedrigung, die er zu verdrängen versucht.

Wie leicht es ist, das Verhalten einer Person falsch zu deuten, wenn man nicht über alle Puzzleteile verfügt, zeigt Lahiri in der allerersten Erzählung «Die Grenze».

Auf einer Piazza betrieb der Vater der Ich-Erzählerin einen Blumenladen. Bis spätabends verkaufte er Blumensträusse. Und spät am Abend war es auch, als er, der Fremde, von einer Gruppe junger Italiener spitalreif geschlagen wurde. «Seitdem fällt ihm das Reden schwer. Er schämt sich zu lächeln, weil ihm Zähne fehlen. Meine Mutter und ich verstehen ihn, aber andere nicht, sie denken, dass er als Ausländer die Sprache nicht richtig beherrscht.» Ablehnung schlägt dem Mann entgegen, der sich in den Augen seiner Umwelt nicht anpassen, nicht eingliedern, ja nicht einmal lächeln will.

Auch «Die Briefchen» erzählt von Ablehnung und dem Versuch, diese umzudeuten oder wenigstens zu ignorieren. «Du gefällst uns nicht», steht mit Bleistift und von Kinderhand geschrieben auf einem Zettelchen, das eine Schneiderin in ihrer Manteltasche findet. Sie ist für wenige Wochen an einer Schule als Pausenaufsicht eingesprungen. Den undefinierbaren Schmerz fühlt sie beim Anblick des Zettels, «wie ein etwas unangenehmer Schnitt, aber ohne Blut», und macht sich vor, das Briefchen sei nicht an sie gerichtet gewesen.

Auf dem nächsten Zettel, den sie in ihrer Manteltasche findet, steht: «Dein Gesicht gefällt uns nicht.» Auf dem dritten: «Du bist schmutzig», und auf dem vierten: «Wir wollen nicht, dass du hier bleibst.» Schliesslich vertraut sich die Frau der Lehrerin an, die ihr den Job als Aufsichtsperson angeboten hat. «Schmeiss sie alle weg, denk einfach nicht mehr daran», sagt sie.

Gute Fremde, schlechte Fremde

Lahiri schreibt nicht von Immigranten oder Geflüchteten, sondern stets von «Fremden». Sie unterscheiden sich von den willkommenen Fremden, die sie «Expats» nennt. Die Fremden würde man am liebsten so schnell wie möglich aus dem Land werfen. Die Expats werden als abwechslungsreich, ja horizonterweiternd wahrgenommen. Gemeinsam ist den Fremden aller Art, dass ihre Andersartigkeit denen auffällt, die schon immer da waren.

Davon erzählt etwa «P’s Partys». Es ist die Geschichte eines Mannes, der schon immer dazugehört hat, schon ewig in einer Beziehung ist, uralte Beziehungen pflegt. Dann durchbricht die Faszination für eine unbekannte Frau, eine Expat, den vertrauten Rhythmus seines Alltags. Die Fremde wird ihm in seinen Gedanken vertraut, während er sich selbst abhandenzukommen droht.

«Daran sterben sie nicht»

Lahiri schreibt aus der Perspektive derer, die sich fremd fühlen. Sei es, weil sie nicht schon immer dazugehört haben. Oder weil sie fürchten, verdrängt zu werden.

«Meine Eltern sagen, früher oder später werden sie mehr sein als wir. Das Café, das die Eltern meines Freundes betreiben, macht bald Pleite, weil von denen fast niemand am Morgen oder am Nachmittag ein Lokal besucht. Sie mögen unseren Kaffee nicht», lässt Lahiri in «Die Postsendung» einen jungen Italiener denken.

Nur wenige Augenblicke vorher hat er einer jungen, schwarzen Frau vom Motorrad aus zugerufen: «Geh dir die Beine waschen.» Jetzt plagt ihn das schlechte Gewissen. Denn seine Beleidigung war nicht das Einzige, was gegen die Frau gerichtet wurde. Sein Freund, der mit ihm auf dem Roller sass, hat die Frau mit einer Luftpistole angeschossen. «Ich habe geschrien: ‹Du hast gesagt, du würdest die Pistole auf niemanden richten.›» Erst nachdem er die Pistole weggeworfen hatte, hat er geantwortet: «Es ist nur, um ihnen ein bisschen Angst zu machen, daran sterben sie nicht.»

Obwohl es nicht ihr Ziel gewesen sei, eine Botschaft unter die Leute zu bringen, tut Jhumpa Lahiri mit ihrer Anthologie genau das. Jede ihrer Erzählungen zeigt, wie der Fremdenhass sich durch die italienische Gesellschaft zieht. Dass Ignorieren nicht hilft und Schönreden nur jene schützt, von denen der Hass ausgeht. Weil Rom und seine Bewohner bei Lahiri austauschbar bleiben, ist ihre Botschaft universell. Ebenso verhält es sich mit der Erinnerung daran, dass man stets nur die Momentaufnahme eines Menschen vor sich hat – niemals alles, was ihn ausmacht.

Jhumpa Lahiri: Das Wiedersehen. Römische Geschichten. Aus dem Italienischen übersetzt von Julika Brandestini. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024. 256 S., Fr. 36.90.

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