Real Madrid zieht nach dem 2:1 gegen Bayern München in extremis in den Final der Champions League ein. Was zunehmend wie ein Naturgesetz des Fussballs erscheint, hat seinen Urknall vor zehn Jahren.
Es war ein flirrendes Panoptikum im Estadio Santiago Bernabéu nach einer denkwürdigen Champions-League-Auseinandersetzung. Auf den Bildern der gigantischen Videoleinwände sah man Real Madrids unwahrscheinlichen Helden Joselu – einen 34-jährigen Globetrotter des Fussballs. Joselu hatte vorige Saison noch beim Absteiger Espanyol Barcelona gespielt. Am Mittwoch erzielte er die beiden späten Tore Reals zum 2:1 gegen Bayern München, was den Finaleinzug von Madrid bedeutete.
Die Bayern hingegen haderten mit einem kaum erklärbaren Patzer ihres Goalies Manuel Neuer, der vor dem 1:1 offenbar der Mystik dieses Stadions erlag und einen harmlosen Schuss von Vinícius Júnior abprallen liess. Die Münchner haderten auch mit dem Schiedsrichter, der beim möglichen 2:2-Ausgleich in der elften Minute der Nachspielzeit zu früh wegen vermeintlichen Abseits abpfiff. «Das ist gegen jede Regel», sagte der Trainer Thomas Tuchel. Tuchel wurde laut wie vor einer ungezogenen Schulklasse: «Das wäre auf der anderen Seite nicht so passiert.»
Gegen jede Regel? Zumindest Real verstösst in der Champions League gegen alle Konventionen. Gegen die Bayern wirkten die Madrilenen erledigt, wähnten sich in der 88. Minute beim 0:1 ausgeschieden. Doch Real drehte das Spiel – wie so oft in den letzten Jahren. «Es ist wieder passiert», sagte der Real-Trainer Carlo Ancelotti lapidar. Oder, um es mit dem fünffachen Champions-League-Sieger Luka Modric zu sagen: «Dieser Film kommt mir bekannt vor.»
Selbst die versiertesten Taktiker stehen ratlos da
Real spielt am 1. Juni im Wembley gegen Borussia Dortmund um den 15. Titel in der Königsklasse, der nächste Verfolger AC Milan steht bei sieben Siegen. Bei Real wäre es der sechste Triumph im vergangenen Jahrzehnt. Für die Gegner muss sich diese Dominanz anfühlen, als liesse sie sich nur noch mit Fatalismus ertragen. Paris Saint-Germain, Chelsea, Manchester City, jetzt die Bayern: «Sie haben mit uns gemacht, was sie mit allen machen», sagte der Bayern-Trainer Thomas Tuchel schon nach dem 2:2 im Hinspiel.
Damals reüssierte Real mit Minimalismus, im Rückspiel wieder mit Magie. Selbst die versiertesten Taktiker stehen ratlos vor der Wucht des königlichen Erfolgsmythos, der wie ein ehernes Naturgesetz wirkt und vor zehn Jahren begonnen hat.
Es gibt Momente, die entscheiden nicht nur Spiele, sondern verändern die Geschichte. Für Real Madrid kam der Moment 2014. Im ersten reinen Stadtfinal der Champions League lief die 93. Minute, und das grosse Real lag gegen das vermeintlich kleinere Atlético 0:1 zurück. Es drohte nicht nur Lokalspott – sondern auch ein Verliererkomplex, nachdem Real die Champions League seit 2002 nicht mehr gewonnen hatte.
Doch dann verschuldete Atlético einen Corner, Modric beförderte ihn auf Höhe des Penaltypunktes, und der Abwehrchef Sergio Ramos köpfte aus dem Lauf ein. Real war wieder bei sich, die Verlängerung bloss Formsache, man gewann 4:1.
Ramos’ Treffer verleiht Real Selbstvertrauen für ein Jahrzehnt
So einschneidend war dieser erste Titel seit 2002, dass ihm ein eigenes Lied komponiert wurde. Es wird vor jedem Spiel im Bernabéu als fester Ritus zelebriert und bei solchen Anlässen wie am Mittwoch gegen die Bayern auch danach. So bedeutsam war Ramos’ Kopfball in der 93. Minute, dass Carlo Ancelotti – auch damals der Real-Trainer – letzte Saison sagte: «Wenn ich heute hier bin, dann wegen Ramos.» Die Befreiung war derart epochal, dass sie dem Klub ein unerschütterliches Selbstvertrauen beschert hat. Real erzwingt seitdem immer wieder das Matchglück.
Im Final 2016 besiegte Real den Stadtrivalen Atlético erneut. 2017 fühlten sich im Viertelfinal die Bayern vom Schiedsrichter «beschissen» (Karl-Heinz-Rummenigge), 2018 verliess Juventus Turin das Bernabéu unter ähnlichem Frust, ehe sich im Final Liverpools Starspieler Mohamed Salah nach einer Attacke von Ramos verletzte – Real triumphierte.
Hinzu kamen die sagenhaften Aufholjagden von 2022. PSG, Chelsea, Manchester City: In jeder K.-o.-Runde war Real spielerisch unterlegen und fand doch einen Weg zum Sieg. Die Augenzeugen verwiesen das Erlebte staunend in den Bereich des Übersinnlichen.
Real gestaltet einen Umbruch, ohne an Erfolg zu verlieren
Unter irdischen Gesichtspunkten hat sich die Siegermentalität von einer auf die nächste Generation übertragen. Am Mittwoch gegen die Bayern stand mit Dani Carvajal nur noch ein Spieler in der Startformation, der das schon im Final 2014 getan hatte. Von den Galionsfiguren des Hattricks zwischen 2014 und 2016 sind nur noch der ausgewechselte Toni Kroos und der eingewechselte Modric dabei. Selbst im Vergleich zum letzten Titel 2022 hat sich das Team mit neuen Leadern wie Federico Valverde und Vinícius verändert.
Real gestaltet einen Umbruch, ohne an Erfolg zu verlieren – eine der schwersten Aufgaben, wie man am schlingernden FC Bayern sieht. Im Unterschied zu den Münchnern umfasst der Wandel bei Real nur die Mannschaft. Der Trainer Ancelotti amtiert seit fast drei Jahren und laut Vertrag noch mindestens bis 2026. Nach dem Finaleinzug lobte er überschwänglich den Präsidenten Florentino Pérez als «Kapitän dieses Bootes».
Der mächtige Bauunternehmer Pérez hat aus der turbulenten «Galaktischen»-Ära zu Beginn des Jahrtausends oder der nicht minder aufreibenden Amtszeit von Trainer José Mourinho 2010 gelernt. Pérez erklärte Ruhe im Klub zur obersten Pflicht. Auf dieser Basis pflegt Real einen Teamgeist, der so unwahrscheinliche Helden wie Joselu ermöglicht. Und der Wunder in Serie produziert.
Zehn Jahre sind vergangen seit jenem Kopfball von Ramos. «Wir haben eine beeindruckende Ära hingelegt», sagt Carvajal, der Veteran.