Die Menschen in der kriegsversehrten Ukraine haben nicht viel Grund, sich über Weihnachten zu freuen. Für den Schriftsteller Sergei Gerasimow ist es bei aller Tristesse und Verzweiflung eine Gelegenheit, über grosse Dinge nachdenken, zum Beispiel über die Zeit.
Der Trolleybus, der sich unter dem rhythmischen Auf und Ab des Heulens einer Luftschutzsirene bewegt, ist fast leer. Auf den Strassen, durch die Fenster, sehe ich nur Frauen, alte Menschen und Teenager. Es gibt nur noch sehr wenige Männer auf den Strassen von Charkiw.
Ein Mann und eine Frau platzieren sich einander gegenüber auf dem Gang. Neben ihnen stehen ein Buggy und ein etwa einjähriges Baby. Dem rosa Overall nach zu urteilen, ist es ein Mädchen. Es lernt gerade laufen und versucht, auf dem schwankenden Boden das Gleichgewicht zu halten. Um von Mama zu Papa und wieder zurück zu kommen, muss es nur wenige Schritte machen.
Das kleine Mädchen lässt Mama los, macht ein paar Schritte auf Papa zu, fällt ihm in die Arme, schmiegt sich an ihn, dreht sich um und geht zurück zu Mama. Dann macht es das Gleiche wieder und wieder. Die Sirene bemerkt es gar nicht. Das Mädchen wurde mit dieser Beschallung geboren und hört sie jeden Tag.
Ihr Vater ist im wehrfähigen Alter. Er sieht nach fünfunddreissig aus. Noch besitzt er Arme und Beine, und die Tatsache, dass er noch nicht an der Front ist, bedeutet wahrscheinlich, dass er bald dorthin geht oder dass er hier einen Kurzurlaub macht, um seine Familie zu sehen.
Jetzt perfektioniert das Mädchen in Rosa das Spiel: Es macht ein, zwei Schritte auf Papa zu, aber sobald Papa seine Arme für eine Umarmung öffnet, lacht es und läuft zurück zu Mama.
Es könnte das letzte Mal sein, dass das Mädchen so mit seinem Vater spielt.
An der Decke des Trolleybusses hängen verschiedene Weihnachtsdekorationen. Aus den Lautsprechern ertönt «Das Lied der Glocken». So sieht Weihnachten in Charkiw aus.
Ein Fremder im Haus
Jedes Jahr zu Weihnachten hören Millionen von Menschen dieses Lied, dessen Melodie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom ukrainischen Komponisten Mikola Leontowitsch in der ukrainischen Stadt Pokrowsk geschrieben wurde, wo er als Musiklehrer in einer Eisenbahnerschule arbeitete.
Die Eisenbahnerschule ist ein altes einstöckiges Gebäude. Heute fällt hier der Putz von den Wänden und gibt den Blick auf bröckelnde Ziegel frei. Die grüne Farbe blättert von den Fensterrahmen ab, zwischen denen das staubige Glas ergraut. Dunkelrote Rosen wachsen unter einer schlichten Tafel in einem Hochbeet aus Holz.
Doch während ich diese Zeilen schreibe, existiert dieses Haus vielleicht schon nicht mehr. Heute Nacht hat die russische Artillerie acht mehrstöckige Gebäude in Pokrowsk und eine unbekannte Anzahl einstöckiger Häuser getroffen. Die russischen Truppen stehen bereits fünf Kilometer von Pokrowsk entfernt. Wenn es ihnen nicht gelingt, die Stadt sofort einzunehmen, werden sie versuchen, sie in Staub zu verwandeln – so wie sie es bereits mit Wowtschansk bei Charkiw getan haben.
Bis Weihnachten werden die Russen sich wahrscheinlich der Stadt genähert und Pokrowsk mit Artilleriebeschuss aus nächster Nähe zerstört haben, um die Einwohner auf diese unorthodoxe Weise vor den «Nazis» zu retten. Wenn sie ins Zentrum eindringen, werden sie alles plündern, was dort noch vorhanden ist.
Das Leontowitsch-Denkmal ist bereits aus Pokrowsk abtransportiert worden. Die zwei Meter hohe Metallfigur des Komponisten wurde aus dem Fundament gerissen, wobei die Sohlen seiner Schuhe leicht beschädigt wurden. Jetzt, wo die ganze Welt mit Inbrunst «Das Lied der Glocken» singt, entfaltet sich die Tragödie von Pokrowsk – der Stadt, in der diese Melodie geschrieben wurde.
Hegel schrieb, dass sich die Geschichte zweimal wiederholt, und Marx merkte maliziös an: in der Tat – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. In Wirklichkeit liegen die Dinge allerdings vielleicht etwas komplizierter. Die Geschichte wiederholt sich oft – und mitunter sogar als Tragödie. Aber manchmal wiederholt sie sich auch als Metapher. Und das ist nicht einmal unbedingt das zweite Mal. Vielleicht sogar das erste Mal, als Vorahnung der Zukunft.
Vor hundertvier Jahren klopfte ein Fremder an die Haustür, als Mikola Leontowitsch anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfestes seinen Vater besuchte. Er war damals dreiundvierzig Jahre alt.
Der Fremde trug eine Mütze und einen Mantel mit Karakulfell-Kragen und sprach Russisch – oder genauer gesagt eine einfache, soldatische Version des Russischen. Er stellte sich als Agent der Tscheka, Afanasi Grischtschenko, vor und zeigte seine Papiere. Man erlaubte ihm, die Nacht dort zu verbringen. Am frühen Morgen fesselte er die Schwester des Komponisten und dessen Tochter, und als Leontowitsch aufwachte und sich im Bett aufsetzte, schoss der Geheimdienstmann mit einer Pistole auf ihn. Dann durchsuchte Grischtschenko in Zerstörungswut das Haus nach Geld, während Leontowitsch verblutete.
Als der Tschekist das Weite suchte, war es bereits zu spät, den Komponisten zu retten. Leontowitschs letzte Worte waren: «Papa, ich sterbe.» Es war Sonntag, der 23. Januar 1921. Der Tschekist Afanasi Grischtschenko setzte seine Raubzüge fort, bis ihn ein ukrainischer Bauer mit einer Schaufel erschlug.
Heute tut Putin, ein Oberstleutnant des KGB, also auch ein Tschekist (der KGB ist aus der russischen Tscheka hervorgegangen), dasselbe, aber in einem viel grösseren Massstab, multipliziert mit einer Million. Er plündert, ruiniert und tötet die Ukraine und ihr Volk. Er massakriert ihre Geschichte und Kultur und insbesondere die gesamte Stadt Pokrowsk, in der Leontowitsch lebte und arbeitete. Und das wird er so lange tun, bis die Ukraine ihn, um es in Analogie zu formulieren, mit einer Schaufel zu Tode hackt.
Höchstwahrscheinlich wurde Leontowitsch von dem Tschekisten nur aus Gier ermordet, aber Putin verfolgt in der Ukraine dasselbe Ziel: Ein Eroberungskrieg ist schliesslich nichts anderes als ein Mord um der Habgier willen, nur unendlich vergrössert.
Und dennoch erklingt aus den Kehlen weiter «Das Lied der Glocken».
Weihnachtsfreude im Untergrund
Zwei Jungs im Alter von etwa acht Jahren sitzen auf einer Bank.
«Was hast du dir zu Weihnachten gewünscht?», fragt der eine den anderen, worauf dieser mit einem abgedroschenen Witz antwortet, den jeder in der Ukraine schon kennt. «Das sage ich dir nicht, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung, und dann stirbt er nicht.»
Es ist klar, wer er ist. Man könnte argumentieren, dass es schlecht ist, wenn kleine Kinder zu Weihnachten jemandem den Tod wünschen. Andererseits ist jedes menschliche Leben heilig – aber nur, solange es nicht andere Menschenleben vernichtet.
Derzeit gibt es in Charkiw Weihnachtstheateraufführungen für Kinder. Sie finden alle tief im Untergrund statt: einige in Metrostationen, andere irgendwo in zertifizierten Schutzräumen. Die Aufführungen dienen nicht so sehr der Unterhaltung der Kinder, sondern vielmehr ihrer Sozialisierung, denn in Charkiw ist Lernen an der Schulbank nicht mehr möglich. Der Smartphone-Bildschirm hat das Klassenzimmer seit mehr als zwei Jahren ersetzt.
Nur Eltern und Lehrer wissen, wo und wann diese Vorstellungen stattfinden. Die Geheimhaltung ist notwendig, damit keine russische Rakete einschlägt. So sieht Weihnachten in Charkiw aus.
Das Gefühl eines Wunders
Weihnachten ist das einzige Fest, an dem man sich gleichzeitig als Erwachsener und als Kind fühlt, und vielleicht verkörpert man damit sogar jene weisere Version seiner selbst, die man eines Tages sein wird – und deshalb spürt man an Weihnachten ein Körnchen ewiger Weisheit im Herzen und möchte über grosse Dinge nachdenken.
Dieser Weihnachtsbaum ist in gewissem Sinne genau derselbe Baum, den deine Eltern einst für dich geschmückt haben, auch wenn er ein wenig anders aussieht. Weihnachten heute und Weihnachten gestern fühlen sich wie alle Weihnachten nicht wie verschiedene Feiertage an, sondern wie ein und dasselbe Fest, zu dem man immer wieder zurückkehrt. Und ja, in gewisser Weise ist diese Weihnacht dieselbe Weihnacht, die vor über zweitausend Jahren im Heiligen Land stattfand.
Solches kann man von Geburtstagen oder von Neujahr nicht behaupten, die einen wie ein Minutenzeiger einen Schritt in der Zeit vorwärtsbringen, ob man will oder nicht.
Ich erinnere mich an Weihnachten von 1970 oder sogar 1969. Mein Vater wiederum erinnerte sich an Weihnachten Mitte der dreissiger Jahre, an den ersten Weihnachtsbaum in Charkiw.
Es war immer die gleiche Weihnacht, auch wenn ich mittlerweile weiss, dass wir sie am falschen Datum feierten, nämlich am 7. Januar statt am 25. Dezember, wobei wir nach wie vor am 7. Januar die «falsche» Weihnacht feiern. Denn wenn wir diese Weihnacht verlegen, wird es ein anderes Fest, das einen Anfang in der Zeit hat und nicht aus dem magisch leuchtenden Nebel der Kindheit auftaucht.
In der Sowjetunion, und natürlich auch in der Ukraine, wurde Weihnachten in den 1920er Jahren abgeschafft – zusammen mit Gott. So wurde Weihnachten 1929 zum «Tag der Industrialisierung» erklärt. In jenen Jahren gab es die «Komsomol-Weihnacht», bei der junge Leute Prozess gegen in Bildform anwesende Geistliche spielten und den Weihnachtsbaum und «den Leib Christi im Sarg» verbrannten. «Wir werfen die Ikonen aus dem Fenster und stecken Gott hinter den Weihnachtsbaum», schrieben die Zeitungen damals. Kindergartenkinder liefen durch die Strassen, mit mürrischen Gesichtern von fanatischen Kommunisten und agitatorischen Spruchbändern mit Sätzen wie: «Erzieht die Kinder mithilfe eines Lehrers, nicht mit Gott.»
Im November 1935 beliebte Stalin jedoch zu erklären, dass «das Leben besser, das Leben fröhlicher geworden» sei, und bald wurde der Beschluss gefasst, Tannenbäumchen wieder aufzustellen. Aber natürlich keinen Weihnachtsbaum.
Es war dies ein Ersatz, der alle zufriedenstellte. So hat sich der Neujahrsbaum bis heute erhalten. Ich erinnere mich, dass meine Eltern, als ich sie fragte, was Weihnachten bedeute, es vorzogen, darüber zu schweigen. So feierten wir denn Weihnachten ohne jeden religiösen Beigeschmack. Wir feierten die Geburt eines Unbekannten aus einer unbekannten Zeit. Es war einfach ein helles, verschneites, silbernes Fest mitten im Winter, an dem die Seele aus einem unerfindlichen Grund vom Gefühl eines Wunders erfüllt war.
In gewissem Sinne gibt es diesen Feiertag auch heute noch so, denn Weihnachten ist immer derselbe Feiertag.
Weihnachten im Glas
Eine alte Dame kauft ein Spielzeug, einen kleinen, leuchtenden Weihnachtsbaum in einer Glaskugel, und tritt aus dem Supermarkt. Sie erblickt ein kleines Mädchen, das sie anschaut.
«Gefällt dir dieser Weihnachtsbaum?», fragt die alte Frau.
«Ja, er gefällt mir sehr. Ausserdem habe ich heute Geburtstag, und mein Vater ist nicht da, weil er sich freiwillig zur Armee gemeldet hat», antwortet das Mädchen.
Die alte Frau gibt dem Mädchen die Glaskugel und geht zurück, um eine neue für sich zu kaufen. So sieht Weihnachten in Charkiw aus.
Die Not, zu glauben
Laut Daten des Pew Research Center von Ende 2018 ist die Ukraine eines der religiösesten Länder Europas. Die Ukraine hat 31 Prozent hochreligiöse Menschen und rangiert unter den 34 europäischen Ländern, die an der Studie teilgenommen haben, an elfter Stelle. Die Menschen in der Westukraine sind religiöser, was wahrscheinlich auf die Nähe zu Polen zurückzuführen ist, wo es viele aufrichtig religiöse Menschen gibt. Ukrainische Frauen sind religiöser als Männer, und diejenigen, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen sind, bekennen sich eher zum Atheismus, aber in Wirklichkeit glauben viele von ihnen immer noch an höhere Mächte, an Karma, Omen und so weiter, weil sie schon immer religiös waren.
Tatsache ist, dass der sowjetische Atheismus nie wirklich atheistisch war. Er stellte eine pervertierte Version von Religion dar, bei der jeder bedingungslos an den dreifaltigen Gott zu glauben hatte: an den Vater (Marx-Engels-Lenin), den Sohn (den amtierenden KP-Generalsekretär, der starb und in neuer Gestalt wiedergeboren wurde) und den Heiligen Geist (die allgegenwärtige und unfehlbare Kommunistische Partei). Die kommunistische Ideologie gab Antworten auf recht religiöse Fragen: wofür man leben, wozu man sterben, an wem man sich ein Beispiel nehmen und wie man moralische Entscheidungen treffen solle.
In Bezug auf Religiosität liegt Russland weit hinter der Ukraine zurück. Dort sind nur 17 Prozent der Menschen hochreligiös. Ich denke, das liegt daran, dass für viele Russen der Glaube an Putin die traditionelle Religion ersetzt hat. Es ist Putin, der jetzt sagt, wofür man lebt, wofür man stirbt, wer ein Vorbild sein soll und was moralisch ist. Putin ist wie ein Gott, allgegenwärtig und unfehlbar.
Seit 2014, dem Jahr der Besetzung der Krim, hat sich viel verändert. Mehr als ein Viertel der Ukrainer geben an, dass sie seit dem Beginn des grossen Krieges religiöser geworden seien. Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe. Einige haben wie durch ein Wunder überlebt und begannen darauf, an Wunder zu glauben. Andere wandten sich Gott zu, denn so wie der Krieg ganze Stadtteile verbrennt und zerstört, so verwüstet er auch ganze Bereiche der Seele – und die Menschen wenden sich Gott zu, um etwas dagegen in der Hand zu haben.
Das beste Geschenk
Weihnachten 2024 ist in der Ukraine die Zeit, in der sich uns nicht ein von einem Rentier mit roten Nasen gezogener Schlitten nähert, sondern die Frontlinie.
Es ist die Zeit, in der wir statt Glockengeläut Luftangriffssirenen hören.
Es ist die Zeit, in der anstelle von Schnee Bomben vom Himmel fallen und anstelle von Kerzenpracht Häuser voller lebender Menschen in Flammen aufgehen.
Weihnachten in der Ukraine ist die Zeit, in der das beste Geschenk, das der Weihnachtsmann den Kindern bringen kann, das Leben ist, denn nicht alle ukrainischen Kinder, die heute «Das Lied der Glocken» hören, werden das Ende des Krieges erleben.
Gewalt vor Recht
Weihnachten lässt einen über grosse Dinge nachdenken, zum Beispiel über die Zeit.
In unserer Epoche ist die Menschheit nicht mehr nur eine Ansammlung von Ländern auf dem Planeten Erde, sondern ein einziger Organismus, der aus Ländern besteht, und die Länder sind seine Organe. Nicht wenige dieser Organe sind vom Bazillus der Diktatur befallen, was bedeutet, dass der gesamte Organismus krank ist.
Vielleicht ist das Recht das Wichtigste, was die Menschen erfunden haben. In unserer Zeit befindet sich der Planet jedoch in dem Zustand, in dem sich England vor der Magna Charta Libertatum befand, das heisst, bevor die Gewalt dem Recht untergeordnet wurde.
Es gibt nach wie vor kein wirkliches internationales Recht, denn Recht ist etwas, das immer durchgesetzt wird, ob man das will oder nicht. Das Gesetz bedeutet, dass, wenn jemand ausgeraubt und ermordet wird, der Räuber oder Mörder bestraft wird, auch wenn ich ihn nicht bestrafen will, weil er mein Nachbar ist, weil er mir Angst macht oder weil er mir stets Äpfel billig verkauft.
In unserer Zeit ist die Gewalt immer noch nicht dem Recht untergeordnet.
Der rasante technische Fortschritt wird diesen Widerspruch immer gefährlicher machen. Ganz gleich, wie der gegenwärtige Krieg ausgeht, die neue grosse Krise könnte noch schlimmer werden. Die neuen Putins, die noch geboren werden, werden schlimmer sein als der jetzige Putin.
Wenn Morde um des Raubes willen geduldet sind, selbst wenn sie millionenfach begangen werden und doch ungestraft bleiben, wird es im nächsten Jahrhundert niemanden mehr geben, der sich erhobenen Herzens «Das Lied der Glocken» anhört.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.