Sonntag, September 8

In seiner Rede vor dem Kongress beschimpft der argentinische Präsident die Politiker – um ihnen danach einen nationalen, libertären Pakt vorzuschlagen. Den können sie nur annehmen, nicht verhandeln.

Siebzig Minuten beschimpfte der argentinische Präsident Javier Milei Freitagnacht die im Kongress versammelten Abgeordneten und Gouverneure. Zum Abschluss seiner Eröffnungsrede der Legislative schlug er den Gouverneuren vor, Ende Mai einen nationalen Pakt zu unterzeichnen. Mit den Politikern aus den 24 Provinzen liegt Milei seit Wochen im Clinch.

Doch eine Friedenserklärung bot Milei den mehrheitlich oppositionellen Provinzfürsten nicht an – ganz im Gegenteil: Sie sollen in knapp drei Monaten eine Grundsatzerklärung unterzeichnen, die in zehn Punkten eine libertäre Neugründung der argentinischen Wirtschaftsverfassung bedeuten würde. Die Vorschläge seien nicht verhandelbar, erklärte der Präsident in seiner kompromisslosen Art: Es sei ein «letztes Angebot». Sie sollten sich nicht täuschen: Je mehr Hindernisse sie ihm in den Weg legen würden bei der Neuorganisation Argentiniens, umso mehr Tempo würde er machen.

Alle sind gespannt, wie Milei weitermachen wird

Die Antrittsrede Mileis zur offiziellen Eröffnung des Kongresses war lange erwartet worden. Vor einem Monat hatte der Kongress Mileis Mammut-Gesetzespaket mit über 600 Reformen zerpflückt, so dass die Regierung es zurückgezogen hatte. Ob aus parlamentarischer Unerfahrenheit oder mit Absicht, das ist offen. Seitdem warten die Opposition, die Wirtschaft und die Öffentlichkeit auf eine Ankündigung von Milei, wie es weitergehen soll.

Doch der 53-jährige Ökonom und Quereinsteiger in der argentinischen Politik, der knapp drei Monate regiert, liess keinen Zweifel daran, dass er weiterhin all sein politisches Kapital auf einen radikalen Umbau des argentinischen Staates setzen will: Obwohl Milei Ende November 2023 mit 56 Prozent der Stimmen mit hohem Abstand zu seinen Konkurrenten gewählt wurde, hat seine libertäre Partei zusammen mit Abgeordneten aus dem liberal-konservativen Spektrum nur eine Minderheit der Sitze im Kongress.

Doch statt einen Konsens zu suchen, konfrontierte er die versammelte Politikerelite – wie schon im Wahlkampf und seinen ersten Monaten im Amt. Milei las ihnen wieder mal die Leviten: Sie seien politische Versager, korrupt und scheinheilig. Sie würden auf Kosten der Mehrheit der Argentinier ihre Privilegien geniessen und hätten das Land in die schwerste Krise seit 100 Jahren geritten. Trotz der staatlichen «Ausgabenorgie», würden inzwischen 60 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben.

Milei warf nicht nur den Peronisten vor, das Land systematisch gemolken zu haben. Der Staat in Argentinien sei eine kriminelle Organisation mit dem Ziel, den Politikern die Taschen zu füllen. Auch bei etablierten Politikern aus seiner Allianz hinterfragte er deren republikanische Gesinnung.

Noch ist Milei populär – die Opposition hält sich bedeckt

Trotz dem schweren Erbe, welches ihm die «Kaste» hinterlassen hätte und der Knüppel, die sie seiner Regierung ständig zwischen die Beine werfen würden, sei seine Regierung auf dem richtigen Weg. Der Staatshaushalt sei erstmals ausgeglichen und die Abwertung des Peso gestoppt. Die Zentralbank reduziere das Dollardefizit. Die Inflationsrate stagniere bereits und sinke bald.

Milei will mit den Beschimpfungen der Kaste und den Verweis auf seine effizienten Massnahmen in der Wirtschaft seine Popularität hochhalten. Noch ist in Argentinien trotz der stark gestiegenen Preise und schweren Rezession keine nennenswerte Opposition gegen Milei auszumachen.

Mileis Claqueure in den Rängen bejubelten jeden Satz seiner eher staatsmännisch, aber wenig mitreissend vorgetragenen Rede. Auch vor dem durch Polizei und Militärs stark geschützten Kongress und dem nahen Regierungssitz gab es kaum Proteste.

Und im Kongress hielten sich die beschimpften Oppositionspolitiker bedeckt. Kein Politiker hat sich angesichts der anhaltenden Popularität Mileis aus der Deckung getraut, um die Oppositionsführung zu übernehmen.

Peronistische Politstars, wie Axel Kiciloff, der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, blickte finster auf Milei während dessen Rede – doch auch er vermeidet wie die meisten Peronisten die offene Konfrontation. Die Gouverneure fürchten, dass ihnen bald die Mittel ausgehen, um ihre Beamten zu bezahlen. Andererseits spüren sie, dass Milei auch in ihren Provinzen vor allem unter Jugendlichen populär und der Verdruss auf die «Kaste» gross ist.

Milei will die Privilegien von Politikern streichen

Es scheint, dass Milei versuchen will, Zeit zu gewinnen bis Ende Mai, wenn sich die Gouverneure hinter ihm versammeln sollen. Die Monatsinflation von über 20 Prozent (im Januar) wird die staatlichen Ausgaben weiter schrumpfen lassen. Milei will bis dahin per Dekret weiter Reformen durchsetzen und am Kongress vorbei regieren: Darunter sind populistische Massnahmen, wie Beschneidung von Politikerprivilegien oder das Verbot der Wiederwahl für Gewerkschaftsführer – was seine Popularität stabil halten soll.

Mileis Kalkül: Sollten in zwei Monaten erste Anzeichen für eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erkennen sein, dann könnte er die Gunst der Stunde nutzen, den Gouverneuren den libertären Pakt vorzusetzen – nach dem Motto friss oder stirb. Bei den zehn Punkten geht es verkürzt darum, den Einfluss des argentinischen Staates radikal zu begrenzen und die Wirtschaft zu öffnen.

«Es lebe die Freiheit, verdammt!», schrieb Milei gestern in die Gästebücher des Senats und des Abgeordnetenhauses. Er beschloss auch seine Rede mit seinem dreifach gebrüllten: «Viva la Libertad, carajo!»

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