Dienstag, November 5

Schon vor dem Waffengang zwischen Israel und dem Hizbullah wurden die Spitäler in Libanon heruntergewirtschaftet. Das rächt sich jetzt: Bombenangriffe und Überlastung bringen das System an den Rand des Kollapses.

Bassel Abdallah eilt durch die Gänge des Spitals von Rayak. Um seinen Hals baumelt ein goldenes Stethoskop. Immer wieder bleibt er kurz stehen, erkundigt sich nach dem Stand der Dinge oder wirft einen Blick in die Krankenzimmer, wo Verwundete an Schläuchen liegen. Als er die Notaufnahme betritt, kommt ihm eine Krankenschwester entgegen. Sie lächelt freundlich und geht weiter.

«Das ist unsere Oberschwester», sagt Abdallah leise und bleibt stehen. «Vor zwei Wochen wurde plötzlich ihr Sohn hier eingeliefert. Er war bei einem Bombenangriff in der Nähe verletzt worden und starb vor ihren Augen.» Abdallah macht eine Pause und schaut auf den Linoleumboden. «Das ist die schlimmste Zeit für uns alle», sagt er dann. «Der Krieg bringt uns an unsere Grenzen.»

Abdallah ist der Chefarzt des Spitals von Rayak in der Bekaa-Ebene im Osten Libanons. Das Privatspital ist ein Familienbetrieb, sein Vater hat es bauen lassen. Früher kamen reiche Iraker und Syrer hierher, um sich operieren zu lassen. Die Verwaltung liess deshalb gleich nebenan schicke Gästevillen errichten. Jetzt ist das 300-Betten-Spital, das wie eine gewaltige Trutzburg aus der flachen Ebene emporragt, der erste Anlaufpunkt für ungezählte Kriegsopfer.

Das Gesundheitssystem war schon vorher ruiniert

Seit Kriegsbeginn kommen hier jeden Tag die Zerfetzten und Verwundeten aus den umliegenden Dörfern an. Die Bekaa-Ebene gilt als Hizbullah-Hochburg und wird deshalb fast pausenlos von den Israeli bombardiert. Wer über die schnurgerade Strasse fährt, sieht überall Trümmer. «Seit Kriegsbeginn hatten wir 583 Verwundete. Von ihnen sind 100 gestorben», sagt Abdallah, der mit seinen Lederslippern und seinem Lacoste-Shirt aussieht, als betreibe er kein Front-Spital, sondern ein Jachtunternehmen.

Der Chefarzt bekommt die Folgen des Krieges zu spüren. Denn Libanons Gesundheitssystem ächzt unter dem Waffengang zwischen Israel und dem Hizbullah, der bisher laut Uno-Angaben 2900 Tote und 13 000 Verwundete gefordert hat. Es ist aber nicht nur der stetige Strom an Patienten, der die Spitäler an den Rand des Zusammenbruchs führt. Libanon machte schon vor dem Krieg schwere Zeiten durch. Eine Wirtschafts- und Währungskrise hat die einst erstklassige Gesundheitsversorgung des Landes ruiniert.

So kämpfen die Spitäler mit Lieferschwierigkeiten. Ersatzteile gibt es nur selten – sie müssen in Dollar bezahlt werden. Weil in Libanon zudem die öffentliche Stromversorgung zusammengebrochen ist, arbeiten fast alle Krankenhäuser mit Generatoren. Doch der Treibstoff dafür ist ebenfalls nur im Austausch gegen harte ausländische Devisen zu bekommen.

Vor allem die staatlichen Spitäler befinden sich in einem ständigen Überlebenskampf. Für viele Dinge gebe es keine Ersatzteile, sagt Jihad Sadeh, der Direktor des Rafik-Hariri-Krankenhauses in Beirut. Das einstige Vorzeigespital sieht mittlerweile ältlich und heruntergekommen aus. «Wir sorgen dafür, dass die medizinischen Apparaturen funktionieren. Aber andere Dinge, wie etwa einige Aufzüge, lassen sich mittlerweile nicht mehr reparieren.»

Zerstörte Spitäler, getötete Mitarbeiter

Das 550-Betten-Spital ist das grösste in Libanon. Im Gegensatz zu Abdallahs Privatklinik wird das Hariri-Spital aus dem Topf des klammen Gesundheitsministeriums finanziert. Zudem liegt es im Süden der Hauptstadt, in Sichtweite der Dahiye – jener vom Hizbullah dominierten Schiiten-Vorstadt, die ständig bombardiert wird. Vor einer Woche wurde das Spital beinahe selbst zum Ziel eines Angriffs, als Israels Luftwaffe in der unmittelbaren Nachbarschaft mehrere Häuser bombardierte. Die Toten und Verletzten landeten in Sadehs Notaufnahme.

Weil Israel auch die dem Hizbullah zugehörigen Sozialeinrichtungen und Gesundheitsorganisationen angreift, müssen die staatlichen Betriebe noch mehr stemmen als in Friedenszeiten. Vor allem in Südlibanon hat die Iran-treue Miliz ein weitverzweigtes Netz aus Spitälern und Gesundheitszentren betrieben, die jetzt ins Fadenkreuz geraten. Bei den israelischen Angriffen seien seit Oktober 2023 bisher 178 Mitarbeiter von Gesundheitsorganisationen gestorben, schreibt das Beiruter Gesundheitsministerium.

«Inzwischen sind fast alle Spitäler in der Dahiye und in Südlibanon entweder ausser Betrieb oder zerstört», sagt Sadeh. «Viele Patienten landen deshalb bei uns.» Dabei handle es sich aber nicht nur um Bombenopfer, sondern auch um chronisch kranke Flüchtlinge. «1,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Viele von ihnen brauchen ärztliche Betreuung. Zudem sind die hygienischen Bedingungen in den Auffanglagern oft unzureichend, weshalb die Leute krank werden.»

Mittlerweile kommt Hilfe aus dem Ausland an. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen sind in Libanon aktiv, betreiben mobile Einsatzteams und unterstützen Spitäler. Während des Treffens in seinem Büro spricht Sadeh am Telefon immer wieder mit internationalen Helfern. Das Problem sei jedoch, dass viele Hilfslieferungen unspezifisch seien. «Wir bekommen das, was gerade verfügbar ist – unabhängig davon, ob es tatsächlich Bedarf gibt oder nicht», sagt Sadeh. «Aber das ist immer noch besser als nichts.»

«Die Bilder lassen einen nicht mehr los»

Der Direktor hat noch ein anderes Problem. Wie in so vielen Krankenhäusern in Libanon mangelt es auch im Rafik-Hariri-Spital an Personal. Während der schweren Wirtschaftskrise der letzten Jahre hatten vor allem gut ausgebildete junge Leute das Land verlassen, unter ihnen viele Ärzte. Seinem Krankenhaus fehle es aber auch an Krankenschwestern, sagt Sadeh. Wegen der tiefen Löhne wechselten viele in andere Berufe. «Zudem stecken manche Angestellte in persönlichen Schwierigkeiten. Ihre Familienmitglieder befinden sich auf der Flucht.»

Das verbliebene Personal sieht sich schweren Belastungen ausgesetzt. Sie schlafe mehrmals in der Woche an ihrem Arbeitsplatz, sagt eine junge Ärztin, die anonym bleiben will. Sie hat nach dem Abschluss ihres Studiums vor einem Jahr ihre Assistenzarzt-Stelle an einem privaten Beiruter Krankenhaus angetreten. «Es ist eine schwierige Zeit», erzählt die 30-Jährige. «Erst mussten wir all die Schwerverletzten der Pager-Angriffe behandeln. Jetzt kommen die Opfer der Bombardierungen hinzu. Das sind Bilder, die lassen einen nicht mehr los.»

Gleichzeitig ist die junge Frau aber auch froh, ihren Anteil leisten zu können. Dank der Arbeit denke man weniger über die schlimme Lage im Land nach, sagt sie. Zudem habe sie eine Aufgabe. «Das lenkt bis zu einem gewissen Grad ab. Aber wenn ich nach Hause zu meiner Familie komme, merke ich, wie nahe es mir geht. Nach all den Wochen fühle ich mich oftmals erschöpft und leer.»

Bassel Abdallah, der Chefarzt des Spitals von Rayak in der Bekaa-Ebene, sieht das ähnlich. «Es ist natürlich eine schwere Belastung, das alles mit anzusehen», sagt er nach Beendigung seines Rundgangs in seinem Büro. «Aber was sollen wir tun? Wir haben eine Aufgabe hier.» Man könne nicht einfach abhauen und an die Côte d’Azur fahren. «Wir sind Ärzte und wollen unser Bestes tun, um den Leuten, so gut es geht, zu helfen.»

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