Sonntag, November 24

Fussballerinnen laufen ein viel höheres Risiko, einen Kreuzbandriss zu erleiden als ihre männlichen Kollegen. Das hat anatomische Gründe – aber nicht nur.

Niemand, der einen Kreuzbandriss erlitten habe, vergesse das Geräusch, sagt Svenja Fölmli: «Wie ein Hölzchen, das bricht.» Als die 21-jährige Nationalspielerin im vergangenen November im Training das Knacken im linken Knie hörte, wusste sie, was auf sie zukommen würde: Operation und mehrmonatige Rehabilitation. Sie hatte sich bereits gut ein Jahr zuvor das vordere Kreuzband gerissen, damals im rechten Knie. Die Verletzung hat sie die Teilnahme an der WM gekostet.

Neben Fölmli fehlen dem Nationalteam wegen eines Kreuzbandrisses Eseosa Aigbogun, die sich vor knapp zwei Wochen verletzte, und Iman Beney, die kurz vor der WM ausfiel. Ihr Schicksal teilten Stars wie die Engländerinnen Beth Mead und Leah Williamson, die Niederländerin Vivianne Miedema, die Deutsche Giulia Gwinn oder die Französin Marie-Antoinette Katoto. Insgesamt 37 Spielerinnen konnten nicht an der WM teilnehmen. Und vor zwei Wochen erwischte es Sam Kerr, eine der Besten der Welt. Es ist, als ginge eine schlimme Grippe um.

Inzwischen weiss man, dass Kreuzbandrisse Fussballerinnen drei- bis sechsmal häufiger treffen als Fussballer. Meist sind nicht Zweikämpfe dafür verantwortlich, die Mehrheit dieser Verletzungen passiert ohne Körperkontakt. Doch warum ist das so? Und was kann dagegen unternommen werden?

Frauenfüsse in Männerschuhen

Was die Blessur so kompliziert macht, ist, dass sie multifaktoriell ist. Verantwortlich sind zum einen anatomische Aspekte: Die breitere Beckenstellung der Frauen kann zu leichten X-Beinen führen, was die Krafteinwirkung auf das Knie beeinflusst. Frauen haben eine engere Kreuzbandhöhle, was das Risiko ebenfalls erhöht. Und Frauen landen nach Sprüngen unvorteilhafter für die Knie als Männer, nämlich in leichter Rücklage und weniger gebeugt. Die gute Nachricht ist, dass man den Voraussetzungen nicht ganz hilflos ausgeliefert ist. Tanja Hetling, Sportmedizinerin und Teamärztin der Schweizer Frauenauswahl, sagt: «Mit den richtigen Stabilisations- und Kräftigungsprogrammen lässt sich das Risiko eines Kreuzbandrisses um 30 bis 70 Prozent senken.»

Eine weitere wichtige Rolle spielt der Hormonhaushalt: Studien legen die Vermutung nahe, dass in gewissen Phasen des Zyklus das Risiko eines Kreuzbandrisses höher ist. Hetling befasst sich seit knapp zehn Jahren intensiv mit Frauensport und den Auswirkungen des Zyklus. Auch aufgrund ihrer Erkenntnisse trainiert das Nationalteam zyklusorientiert; die Spielerinnen werden mit Tipps versorgt, wenn sie in ihre Klubs zurückgehen.

Unbestritten ist, dass es im Frauensport viel Nachholbedarf gibt. Trainingslehre, anatomische Besonderheiten, die unterschiedliche Entwicklung in der Pubertät – vieles wird erst erforscht. Seit der Jahrtausendwende haben Medizin und Wissenschaft angefangen, Frauen auch im Sport nicht mehr wie kleine Männer zu behandeln. «Doch wir sind erst am Anfang», sagt Hetling, es gebe ganz viel Luft nach oben – auch wenn immer mehr Studien existierten, mit denen man arbeiten könne.

Und doch gibt es immer noch Faktoren, die kaum untersucht wurden. Katrine Okholm Kryger, Professorin für Sportrehabilitation an der Universität St Mary’s in London, bemängelt in einem Artikel von «Sky News», dass Sicherheit und Leistung der Spielerinnen zu lange dadurch beeinträchtigt worden seien, dass die Fussballschuhe weitgehend für einen männlichen Körperbau konzipiert seien. Bei einer Befragung von 350 Spielerinnen in Europa gaben 82 Prozent an, sie empfänden das Tragen der Schuhe als unangenehm. Kryger arbeitet nun an einem Projekt mit 3-D-Scans, um die Unterschiede zwischen einem weiblichen und einem männlichen Fuss zu erfassen.

Paradoxerweise hat die Flut von Kreuzbandrissen auch mit einer Erfolgsgeschichte zu tun: Der Sport ist in den letzten Jahren rasch gewachsen. Doch die Arbeitsbedingungen für die Athletinnen wachsen nicht im gleichen Tempo mit. Zwar professionalisieren sich die Klubs zunehmend, aber in den meisten Vereinen kämpfen die Frauen im Vergleich mit ihren männlichen Kollegen mit schlechteren Plätzen, weniger gut ausgebildetem Staff und geringerer Erholungszeit, weil viele neben dem Fussball arbeiten oder eine Ausbildung machen.

Zudem wird der Kalender für die Topspielerinnen immer gedrängter: Meisterschaft, Cup, internationale Wettbewerbe, grosse Turniere und nun auch noch die Nations League. Die Ballung, von den Männern schon länger kritisiert, wird nun auch den Frauen zugemutet. Gleich zwei Topspielerinnen haben diese Woche in englischen Medien vor der Entwicklung gewarnt. Leah Williamson, Captain der Engländerinnen, seit April mit einem Kreuzbandriss out, führt die Häufung der Verletzung auch auf das Fehlen einer spielfreien Zeit zurück. Sie sagt im «Telegraph»: «Wir machen uns selbst kaputt, es muss bald eine Lösung für den Spielplan gefunden werden, so ist er nicht tragbar.»

Die Norwegerin Ada Hegerberg, 2018 Weltfussballerin, Opfer eines Kreuzbandrisses und einer Stressfraktur, sagt im «Guardian», sie sei schockiert gewesen, als sie den Spielkalender für 2024 gesehen habe. Mitten im Juli hat die Fifa ein Fenster für Länderspiele eingeplant. Es werde zu Recht viel über Forschung gesprochen, schreibt Hegerberg, aber nicht genug darüber, wie diese Forschung konkret umgesetzt werde. Sie begrüsst die Initiative der Uefa, die Anfang Jahr eine Kreuzbandriss-Expertenkommission eingesetzt hat. «Aber was nützt das, wenn man mitten im Sommer Länderspiele bestreiten muss?», fragt sie. Der Stress, der den Spielerinnen körperlich und mental zugemutet werde, ergebe keinen Sinn.

Wer viel reist, trägt ein höheres Risiko

Eine Studie der Fussballerorganisation Fifpro stützt die Kritik der Spielerinnen. Untersucht wurden Daten der letzten beiden Saisons von 139 Spielerinnen aus Topligen. 58 verletzten sich in dieser Periode, die meisten (32 Prozent) am Knie. Die Analyse zeigt, dass die Spielerinnen, die sich am Kreuzband verletzten, mehr Einsätze, oft weniger als 5 Ruhetage zwischen den Partien und in den 28 Tagen vor der Verletzung weniger Ruhezeit hatten als ihre Kolleginnen. Sie reisten weiter, länger und über mehr Zeitzonen.

Svenja Fölmli mag sich nicht zu viele Gedanken machen, warum sie die Verletzung nun bereits zum zweiten Mal getroffen hat. In ihrem Klub werde viel getan, um allen möglichen Verletzungen vorzubeugen. Sie geht davon aus, dass auch genetische Voraussetzungen eine Rolle spielen, und: «Es ist zu einem Teil Berufsrisiko.» So niederschmetternd die Diagnose war: Aufgeben war nie eine Option. «Zwei schafft man», sagt die Stürmerin.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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