Donnerstag, Oktober 31

Obwohl sie mit Isabelle Huppert oder Léa Seydoux arbeitet, wird die Regisseurin oft übersehen. Eine Werkschau in Bern ehrt sie.

In jedem Film der französischen Filmemacherin Mia Hansen-Løve gibt es eine Einstellung von sich im Wind wiegenden Bäumen. Diese Bilder wehen kaum merklich an einem vorüber. Die Regisseurin platziert sie zwischen existenzialistischen Dialogen und fragilen menschlichen Körpern, die sonst ihre Filme bestimmen. Im Rauschen von Ästen und Laub lässt sich eine ganze Kinophilosophie ablesen und ein Eingang finden ins Werk einer bemerkenswerten Filmemacherin, die oft übersehen wird und der nun im Berner Kino Rex eine Werkschau gewidmet wird.

Nicht nur gibt die sanfte Bewegung der Bäume den Ton der insgesamt acht Langfilme vor, die Hansen-Løve inzwischen realisiert hat, sie zeugt von der beiläufigen Flüchtigkeit des Daseins. Das gilt für das jähe Auseinanderfallen einer ersten Liebe wie in «Un amour de jeunesse» (2011), das im mittleren Alter noch einmal neu beginnende Leben einer Frau in «L’avenir »(2016) oder die Unentschiedenheit einer Autorin zwischen ihrer Kunst und ihrer Mutterrolle in «Bergman Island» (2021).

Etwas kippt

Hansen-Løve, die als Filmkritikerin arbeitete und ihre Drehbücher selbst schreibt, zeigt Menschen auf der Durchreise. Das ist zum einen wortwörtlich gemeint, denn man sieht ihre Figuren oft in Autos oder auf Fähren, aber auch metaphorisch. Sie interessiert sich für die Lebensphasen, in denen etwas kippt. Wenn nötig hilft sie etwas nach mit radikalen Zeitsprüngen. Dann begreift man, dass nichts ewig hält, egal was man versucht. Kein Wunder, dass sich ihre ersten vier Filme dem Coming-of-Age-Genre zuschreiben lassen, Filme also, deren Protagonisten auf der Suche nach einer Identität zwischen verschiedenen Welten wandeln.

Ihre Drehbücher sind persönliche Angelegenheiten. Das zeigt sich etwa in ihrem jüngsten Film, «Un beau matin» (2022), in dem sie sich mit der neurodegenerativen Erkrankung ihres Vaters, einer Form von Alzheimer, auseinandersetzt. Ihr Einflechten persönlicher Erlebnisse geht so weit, dass sie in den Pflegeheimen filmte, in denen ihr Vater war. Ihre Mitschnitte von Dialogen mit ihm fanden direkt Eingang ins Drehbuch. So wie viele ihrer Figuren, etwa der Filmproduzent und Familienvater in «Le Père de mes enfants» (2009), führt Hansen-Løve eine Art Doppelexistenz, sie fiktionalisiert das, was ihr widerfahren ist, und findet dadurch ein Verständnis für eigentlich unbegreifliche Abläufe und Zustände.

Eigentlich sind ihre Filme in den für das französische Autorenkino so typischen Welten angesiedelt. Also zwischen Bücherregalen, einem Glas Wein und stürmischen Affären. Hansen-Løve gibt den altbekannten Mustern aber einen feministischen oder zumindest dezidiert weiblichen Anstrich. Das äussert sich zum Beispiel in der Bedeutung von Mutterschaft in ihrem Kino oder der Tatsache, dass bei ihr die Männer diejenigen sind, die schwer fassbar, ausweichend bleiben. Sie macht es sich dabei aber nicht zu einfach, ist nicht an politischen Statements, sondern einer stillen Beobachtung interessiert.

Isabelle Hupperts emotionale Wucht

Ihre Filme sind weder leicht noch schwer, sie schweben in einer schwer zu greifenden, aber berührenden Ambiguität. Auf Selbstmordgedanken folgt ein Lacher, auf das Gefühl von Freiheit Liebeskummer. Alles bleibt in Bewegung. Um das darstellen zu können, braucht es gute Schauspieler. Mit Isabelle Huppert, Vicky Krieps oder Léa Seydoux hat Hansen-Løve in den letzten Jahren mit den grössten Darstellerinnen des europäischen Kinos gearbeitet.

Was für eine emotionale Wucht daraus entstehen kann, zeigt sich beispielsweise in «L’avenir», wenn Huppert ihre Mutter in ein Pflegeheim bringen muss. Innerhalb weniger Sekunden wird dann ein Kaleidoskop menschlicher Gefühle sichtbar: der Schmerz der Mutter, Hupperts Rechtfertigungen ihrer Handlung auf dem Weg zum Auto gegenüber ihrem eigenen Sohn, der abwertende Blick des Sohnes, im Auto dann die Verzweiflung über den im Heim herrschenden Geruch, die Scham, die Wut, die Trauer. Dann wieder das Bild von Bäumen im Wind.

Seit der Filmpionier D. W. Griffith das Fehlen dieses Bildes in den Arbeiten seiner Zeitgenossen monierte, ist es zu einem bald romantisch verklärten, bald politisch dringlichen Urbild des realistischen Kinos geworden. Hansen-Løve findet einen eigenen Ton, der damit zu tun hat, dass sich ihre Filme wie Pflaster auf Wunden legen. Sie enden meist mit einem optimistischen Schritt ins Offene, einer Geste, die das Leben annimmt in all seiner Vielschichtigkeit.

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