Donnerstag, Juli 4

Der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr ist ein Optimist. Er vertraut darauf, dass der technologische Fortschritt die Welt verbessert. Doch nationale Eitelkeiten und irrationale Ängste vor Erfindungen lassen ihn manchmal verzweifeln.

Herr Mokyr, als Historiker kennen Sie viele Epochen. In welcher Zeit hätten Sie am liebsten gelebt?

Wenn ich auf die materielle Lebensqualität schaue, würde ich 2024 als Geburtsdatum wählen. Heute lebt man länger und verfügt über einen besseren Zugang zu Informationen als je zuvor. Und dank Hochleistungscomputern, maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz wird es immer besser. Denken Sie an die Personalisierung von Medizin. Statt spezifische Lösungen für den Durchschnittsmenschen zu entwickeln, werden massgeschneiderte Lösungen für jeden Einzelnen möglich.

Und welche Zeit würden Sie wählen, wenn auch das Nichtmaterielle zählt?

Die Welt von heute ist nicht mehr so freundlich, wie sie einmal war. Die Schweiz mag eine Ausnahme sein. Hier war man immer isoliert von Kriegen, dem Land ist es gelungen, die Barbaren draussen zu halten. Aber der Rest der Welt hat sich nicht so entwickelt, wie ich es vor 25 Jahren erwartet und gehofft hatte, nach dem Ende des Kalten Krieges. Damals war die Hoffnung gross, dass sich die Welt viel stärker einem liberalen und demokratischen Modell annähert. Francis Fukuyama schrieb vom Ende der Geschichte.

Die Hoffnung blieb unerfüllt.

Ja, vieles ist schlechter geworden, als ich es mir erhoffte. Anstelle liberaler Demokratien machen sich autoritäre Regime und faschistische Bewegungen breit. 1990 hätte ich nie gedacht, dass ich das je wieder sehen würde. Das Problem mit Autokratien: Wenn sie einmal da sind, ist es sehr schwer, sie wieder loszuwerden.

Was heisst das jetzt? Erwartet unsere Grosskinder ein besseres oder ein schlechteres Leben?

Ich bin optimistisch, was unsere Fähigkeit betrifft, technische Probleme zu lösen. Ich bin aber weniger optimistisch als früher, was die Lösung von Problemen betrifft, bei denen Staaten zusammenarbeiten müssen. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten kollektiven Handelns ist der Klimawandel, wo es den reichen Ländern nicht gelingt, die armen Länder zu überzeugen, ihre Emissionen zu stoppen.

Aufklärung und Wohlstand

dba./tf. Joel Mokyr zählt zu den bedeutsamsten Wirtschaftshistorikern der Gegenwart. Der israelisch-amerikanische Doppelbürger hat vor allem die wirtschaftliche Geschichte Europas zwischen 1750 und 1914 erforscht. Im Fokus stehen dabei die intellektuellen Wurzeln des technologischen Fortschritts, namentlich die Rolle der Aufklärung. Das Interview mit dem 77-jährigen Professor der Northwestern University (Illinois) fand in Zürich statt, am Rand einer Veranstaltung des UBS Center for Economics in Society.

Bleiben wir bei der optimistischen Seite, dem technischen Fortschritt. Was braucht es, damit ein Land reicher und intelligenter wird?

Es gibt keine Geheimformel. Doch etwas ist klar: Der treibende Faktor des Wachstums ist nicht länger der Handel, sondern Innovation. Die Gewinne des Handels erreichen irgendwann ein Limit, bei Innovationen ist dies nie der Fall. Es entstehen ständig neue Wissenszweige. Denken Sie an die Nanotechnologie, das enorme Potenzial der mRNA, ganz zu schweigen von künstlicher Intelligenz.

Ein Kernargument von Ihnen lautet, dass dieses Wissen von einer sehr kleinen Elite geschaffen wird. Das heisst im Umkehrschluss: Die grosse Mehrheit der Menschen ist unbedeutend für den Fortschritt?

Ja. Entscheidend ist eine kleine Minderheit. Diese Leute gilt es zu kultivieren. Sie sind es, die man an Top-Universitäten schicken sollte, um ihnen die beste Ausbildung zu ermöglichen. Das Problem: Im Voraus weiss man nicht, wer und wo diese Leute sind.

Wie löst man das Problem?

Man muss alle ausbilden und dann dafür sorgen, dass das Bildungssystem jene Menschen erkennt und identifiziert, die aussergewöhnlich fähig und kreativ sind. Das ist schwierig, denn einige von ihnen sind Spinner, Exzentriker oder sehen irgendwie seltsam aus. Man sieht ihnen nicht an, dass sie dereinst Facebook, Tesla oder Microsoft gründen werden.

Ein Dilemma.

Ja. Entscheidend sind weltweit vielleicht 30 bis 40 Universitäten oder Forschungseinrichtungen. Der grosse Rest trägt nicht annähernd so viel zum Fortschritt bei. Ich finde daher, dass die Politiker zu besessen sind vom Pisa-Test, der das Wissen der gesamten Bevölkerung abfragt. Die relevante Frage lautet: Wie schneiden die obersten 10 Prozent ab? Wenn diese Gruppe in schlechter Form ist, hat man ein Problem. Auf der anderen Seite kann ein Land schlechte Durchschnittswerte haben, doch wenn die Leute an der Bildungsspitze brillieren, kommt das Land trotzdem voran. Dies galt etwa für Grossbritannien während der industriellen Revolution.

Kennen Sie ein Land, wo die Förderung der Besten gut umgesetzt wird?

Ja, Israel. Dort ist die sekundäre Bildungsstufe zwar nicht besonders gut. Doch das Land hat ein brillantes System, mit dem es versucht, die klügsten und mathematisch begabtesten Leute auszuwählen und sie in Leistungskurse an Universitäten zu schicken. In der Armee existiert eine spezielle Einheit, die solche Talente nicht nur für militärische Zwecke nutzt, sondern sie auch in Computer- oder Materialwissenschaften auf Top-Niveau ausbildet. Auf diese Weise wurde in Israel quasi aus dem Nichts eine Hightech-Industrie aufgebaut.

In vielen egalitären Gesellschaften, zu denen auch die Schweiz gehört, dürfte eine solche Bildungspolitik kaum mehrheitsfähig sein.

Ich verstehe das. Man muss nicht nur der Elite eine gute Ausbildung anbieten, sondern auch der breiten Masse. Alle Menschen sollen Zugang haben zu den Früchten technologischen Fortschritts, etwa Computertomografie, künstlichen Gelenken, guter Zahnmedizin. Aber Innovation gelingt nur, wenn die Menschen, die hinter solchen Innovationen stehen, gezielt unterstützt werden. Es sind Genies, die Dinge sehen, die sonst niemand sieht, und die ein Land vorwärtsbringen, nicht der Durchschnittsbürger.

Blickt man auf die erfolgreichsten Unternehmen, gewinnt man den Eindruck, diese Genies sässen vor allem im Silicon Valley. Was machen die USA besser?

Die USA haben insgesamt zwar ein mittelmässiges Bildungssystem. Gleichzeitig gibt es aber eine Reihe absoluter Top-Institutionen, die weltweit führend sind. Dort wird jene Elite ausgebildet, die zum Wirtschaftswachstum beiträgt. Das Interessante dabei: Viele dieser Leute sind Zuwanderer. Sie kommen aus dem Ausland in die USA, weil sie dort Gleichgesinnte und herausragende Forscher treffen, von denen sie lernen und mit denen sie zusammenarbeiten können.

Warum funktioniert das nicht in Europa?

Die USA waren schon immer offener für den Import von Humankapital. Eine Fussnote dazu: Etwas vom Wichtigsten, was Amerikas Wissenschaftsbetrieb in den 1930er Jahren widerfuhr, war der Aufstieg von Adolf Hitler. Die Crème de la Crème der deutschen Medizin, Chemie, Technik, aber auch Musik zog in die USA und fand dort ein neues Zuhause. Das war ein Glücksfall für die USA und ihre Forschungseinrichtungen. Diese Aufgeschlossenheit hat dem Land bis heute sehr gutgetan. Die zunehmend einwanderungsfeindliche Stimmung in den USA stellt dieses Modell aber zusehends infrage.

Hinzu kommt die an US-Universitäten grassierende Cancel-Culture. Wie schlimm ist die Lage?

Es hängt davon ab, wo man hinschaut. In Geistes- und Sozialwissenschaften, vor allem in der Anthropologie und den sprachlichen Fakultäten, ist es ziemlich schlimm. In den Wirtschaftswissenschaften hingegen sieht man wenig davon. Und in Mathematik oder Medizin sind solche Auseinandersetzungen praktisch inexistent – die Analyse von T-Zellen oder Algebra taugt nicht für ideologische Kämpfe. Aber eines ist wahr: In Amerika hat die Polarisierung zugenommen. Die Leute sind nicht mehr nur unterschiedlicher Meinung, sie hassen einander. Ein neuer toxischer Tribalismus macht sich breit, und dieser könnte in alle möglichen Ecken der akademischen Welt vordringen.

Können Denkverbote auch den technologischen Fortschritt behindern? Stichwort Atomenergie.

Dort war das Problem nicht die Technologie an sich, sondern die Menschen, die nicht damit umgehen konnten, weil sie eine irrationale Angst vor etwas radikal Neuem hatten. Doch die Alternative der fossilen Energie ist für die Menschheit viel gefährlicher. Die Atomenergie ist eine weitgehend verpasste Chance, aufgrund einiger untypischer Ereignisse. Die Obsession der Deutschen mit dem Thema ist irrational. Oder nehmen Sie genetisch veränderte Organismen: Solche Pflanzen können bei Hitze, Trockenheit oder versalzenen Böden besser überleben als herkömmliche Arten. Dennoch gibt es – völlig unbegründet – grossen Widerstand gegen sogenanntes Frankenfood, eine absurde Idee, die sich nicht auf Fakten stützt.

Was ist Ihre Erklärung?

Vielleicht braucht es einfach mehr Zeit, bis bahnbrechende Erfindungen ausgereift sind. Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, schrieb Mitte des 18. Jahrhunderts eine lange Liste von segensreichen Dingen, die möglich wären, wenn man die Elektrizität zähmen könnte. Das reichte von Heizungen über Strassenbahnen bis hin zu Motoren. Aber es dauerte rund hundert Jahre, bis Leute wie Siemens, Edison, Westinghouse die konkreten Erfindungen machten – und damit eine neue Welt schufen.

Sie sind sehr wachstumsoptimistisch. In den Buchhandlungen stehen aber vor allem Bücher, die für ein Ende des Wachstums plädieren und vor dessen Gefahren warnen. Warum?

Dieses Phänomen ist nicht neu. Das hatten wir bereits in den 1960er Jahren. Die gezogenen Schlüsse waren schon damals falsch. Denn erst Wachstum stellt der Menschheit Ressourcen zur Verfügung. Die Vorstellung, dass wir «genug» Ressourcen haben, ist Unsinn.

Aber Wachstum kann der Umwelt und dem Klima schaden.

Ja, das streite ich nicht ab. Doch gerade um die Folgen der globalen Erwärmung zu bewältigen, brauchen wir Wachstum, nur eine andere Art davon. Wir brauchen die Ressourcen, um mit einem anderen Planeten zurechtzukommen und uns an ihn anzupassen. Kühlgeräte, Schutzwälle gegen den steigenden Meeresspiegel, Entsalzungsanlagen: Das sind teure Investitionen. Dazu kommt die demografische Krise. Wenn immer weniger Menschen arbeiten und für eine wachsende Anzahl alter Leute sorgen müssen, brauchen wir mehr Output pro Arbeiter – nicht weniger. Das ist es, was Wachstum ausmacht. Ganz zu schweigen von den nötigen Ausgaben für die Rüstung, um Europas Demokratien gegen Russland verteidigen zu können.

Ein Wachstumstreiber war stets die Globalisierung. Das scheint sich zu ändern. Der Widerstand wächst. Hat die Globalisierung den Höhepunkt hinter sich?

Wenn ich das nur wüsste! Die Technologie wird die Globalisierung sicher weiter vorantreiben, da bin ich ziemlich sicher. Bis zu einem gewissen Grad können aber politische Massnahmen wie Zölle diese Vorteile wieder zunichtemachen, da bin ich weniger optimistisch. Darf ich eine Analogie zum 19. Jahrhundert machen?

Gerne.

Zwischen 1815 – nach der Niederlage von Napoleon – und ungefähr 1870 bewegte sich Europa relativ friedlich hin zu Globalisierung und Freihandel. Zu den Gründen gehörten technische Errungenschaften wie Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegrafie, aber auch Handelsabkommen. Um zirka 1880 drehte die Stimmung. Nationalismus und Rivalitäten nahmen zu. Diese Entwicklung endete im Ersten Weltkrieg. Ich hoffe, dass die Menschen heute aufwachen und merken: Deglobalisierung ist Irrsinn, weil sie eine Grundregel der Ökonomie ignoriert: Handel mit Gütern ist vorteilhaft und bringt allen einen Nutzen.

Es gibt aber auch Verlierer der Globalisierung. Denken Sie an den China-Schock. Dieser führte im sogenannten Rostgürtel der USA zu grosser Arbeitslosigkeit.

Ich glaube, der China-Schock wird überbewertet. Ja, es gab Leute, deren Fabrikjobs überflüssig wurden. Gleichzeitig wurden die Läden in den USA und Europa mit günstigen Waren aus China gefüllt. Die Konsumenten, also wir alle, profitierten. Daher kann die Antwort nicht Deglobalisierung heissen, vielmehr muss man ein soziales Sicherheitsnetz knüpfen, das den Verlierern hilft.

Eine Hoffnung der Globalisierung blieb aber unerfüllt, jene des «Wandels durch Handel». Die Zunahme des Handels hat aus Autokratien nicht demokratische Länder gemacht. Warum?

Ja, irgendwie scheint das nicht zu funktionieren. Obwohl beispielsweise schon Montesquieu mit dem Begriff des «doux commerce» die friedensschaffende Kraft des Handels beschwor.

Warum funktioniert es nicht?

Die Vorstellung der Aufklärung, sie könne die Gesellschaft dauerhaft verbessern und die Menschen dazu bringen, sich besser zu verhalten, war naiv. Der Nationalismus, die menschliche Natur und fehlendes Vertrauen zwischen Ländern sind extrem starke Kräfte. Rational gesehen ergab es null Sinn, den Ersten Weltkrieg anzufangen. Wenn mich meine Studenten nach dem Grund fragen, kann ich nur mit Friedrich Schillers berühmtem Ausspruch antworten: Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.

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