Antisemitismus scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Auszurotten jedenfalls ist der Hass auf Juden nicht. Aber wie lässt er sich erklären? Ilka Quindeau versucht es mit Psychoanalyse.
Judenfeindliche Gewalttaten nehmen weltweit zu, die Frage nach den Wurzeln des Antisemitismus drängt sich auf. Ilka Quindeau nähert sich ihr aus der interdisziplinären Perspektive, die sie als Soziologin und Psychoanalytikerin mitbringt. Ihr Buch «Psychoanalyse und Antisemitismus» geht auf die Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2003 zurück. Das erklärt das zugrunde liegende Erkenntnisinteresse. Es geht der Autorin um eine Rekonstruktion und Aktualisierung der Antisemitismusforschung, die im erweiterten Umfeld einer an Sigmund Freud orientierten kritischen Theorie entstanden ist.
Zunächst setzt sich Quindeau mit der bis heute einflussreichen Studie zum autoritären Charakter auseinander, die Theodor W. Adorno im amerikanischen Exil ausgearbeitet hat. Diese sei, so Quindeau, vor nunmehr achtzig Jahren wegweisend gewesen, sei aber heute von nur begrenztem Erklärungsgehalt. Der Grund dafür liege darin, dass das faschistische Potenzial ausschliesslich auf Charakter- beziehungsweise Persönlichkeitsstrukturen zurückgeführt werde.
Aufgrund der Fokussierung auf pathologische Reaktionsmuster laufe diese Erklärung darauf hinaus, dass der Antisemitismus vereinfacht werde und Antisemiten letztlich gewissermassen entlastet würden, so Quindeau. Im Gegensatz zu diesem Erklärungsversuch legt sie, gut soziologisch, den Akzent auf gesellschaftliche Bedeutungsmuster, die eine abwertende Konstruktion des «Juden» enthalten und als Weltanschauung übernommen werden.
Kein Schuldbewusstsein
Mit Verweis auf ihre eigenen klinischen Erfahrungen zeigt Quindeau, dass Stereotype wie «das Jüdische als antagonistisch Anderes» eine innerlich stabilisierende Funktion haben können: «Das Subjekt entlastet sich vom Verpönten und Unerträglichen, indem es dies auf ‹Juden› projiziert», resümiert sie.
Ausgehend von dieser Grundthese widmet sich Quindeau einer empirischen Studie, die das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu Beginn der fünfziger Jahre unter der Leitung von Adorno durchgeführt hat. Damals wurden Gruppendiskussionen aufgezeichnet, bei denen die Einstellung der Deutschen zu ihrer Schuld thematisiert wurde. Sie unterzieht Quindeau einer Neulektüre.
Dass es bei den Nachkriegsdeutschen so gut wie kein Schuldbewusstsein gab, führt sie nicht wie Adorno auf die gesellschaftlich bedingte Ich-Schwäche des Subjekts zurück. Vielmehr sieht sie in der Verleugnung von Schuld ein eklatantes moralisches Versagen. Der Gewissenlosigkeit entspreche eine bewusste strategische Abwehr von Schuld in Form von Bagatellisieren, Aufrechnen, Verleugnen und Täter-Opfer-Umkehr.
Erinnerung ans Geschehene
Der unterschwellige Antisemitismus kommt nicht mehr in der Verdrängung der tiefsitzenden Gefühlsbindung an den Nationalsozialismus zum Ausdruck. Aber Quindeau zeigt, dass unbewusste Schuldgefühle über Generationen weitergegeben werden können. Das mit moralischem Impetus geforderte Gebot, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten, hält sie allerdings für eine Selbsttäuschung der Kinder der Tätergeneration. Das Schuldgefühl der Kinder dient Quindeaus Ansicht nach vor allem der eigenen narzisstischen Stabilisierung und der Abgrenzung von den Eltern.
Ein wichtiger Punkt ist für Quindeau die Fähigkeit, Widersprüche in emotionaler, kognitiver und moralischer Form zuzulassen. In diesem Zusammenhang geht sie einer provokativen These nach: dass im Vorwurf des postkolonial motivierten Antisemitismus, wie er etwa in der Kritik an dem mit antisemitischen Stereotypen gespickten Kunstwerk der Künstlergruppe Ruangrupa auf der Documenta fünfzehn erhoben wurde, selbst latente antisemitische Stereotype verborgen seien.
Indem der Postkolonialismus für Manifestationen des Antisemitismus verantwortlich gemacht werde, lenke man nach dem Sündenbock-Prinzip von der eigenen antisemitischen Befangenheit ab, so die These. Quindeau zieht daraus den Schluss, die psychische Disposition zum Antisemitismus sei ein universales Phänomen. Und zudem ein vages, flüchtiges, das unversehens ins Bewusstsein dränge und sich in immer wieder neuer Form zeige.
Vorurteile hinterfragen
Ilka Quindeaus Buch bietet eine umfassende, gut begründete Kritik am alltäglichen Antisemitismus und an der Resistenz antisemitischer Vorurteile, die seit dem Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 neu befeuert wurden. Und hegt dabei die Hoffnung, dies könnte dazu beitragen, sich selbstreflexiv eigener Vorurteile innezuwerden, bis hin zu rassistischen Feindbildern.
Quindeau resümiert: Antisemitisch sind nicht nur die anderen. Aus der politisch umstrittenen Kontroverse, ob der rechte oder der linke, der islamistische oder der Israel-bezogene Antisemitismus als radikaler und gefährlicher gelten muss, hält sich Quindeau heraus. Ebenso ergreift sie nicht Partei bezüglich der Frage, welchen Thesen der vielstimmigen Antisemitismusforschung Deutungshoheit zukommen soll.
Von Adorno stammt der Satz, an der Psychoanalyse sei nichts wahr als ihre Übertreibungen. Die Autorin stellt unter Beweis, dass die Psychoanalyse gerade durch die Differenzierung zwischen diffamierenden Vorwürfen und diffizilen Kritikversuchen zu überzeugen vermag – also gerade durch den Verzicht auf Übertreibung.
Ilka Quindeau: Psychoanalyse und Antisemitismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 284 S., Fr. 46.90.