Fernsehen im Fuck-around-Jahrzehnt: Jerry Springer und die Erfindung des Trash-TV
Nein, seine eigene Sendung würde er sich niemals ansehen. «Es ist nur eine dumme Show», sagte Jerry Springer im Rückblick auf sein Lebenswerk und die wahrscheinlich rücksichtsloseste Fernsehsendung Amerikas: die «Jerry Springer Show». Andere denken, dass Springer mindestens das Fernsehen, wenn nicht sogar die politische Kultur Amerikas versaut habe. Für sie ist er der Satan des Fernsehens und seine Show der Anfang vom Ende des Landes.
Die «Jerry Springer Show» gilt als Geburtsstunde des Trash-TV. Und obwohl die Sendung 2018 eingestellt wurde, wird bis heute über ihre Nachwehen diskutiert. Etwa darüber, ob der US-Wahlkampf mit seinem Ausmass an persönlichen Beschimpfungen nicht einer Folge «Jerry Springer» gleiche.
Springer, der sich auf seinem Twitter-Account selbst zum «Ringmaster of civilization’s end» ernannte, verwandelte das Studio in den 1990er Jahren in eine Arena, in der die Gäste ihre persönlichen Schlammschlachten austrugen – gern auch mit der Faust. Meist ging es um Beziehungsstreit, Seitensprünge, Inzest. Ab und an wurden auch Figuren aus dem amerikanischen Kuriositätenkabinett vorgeführt, wie ein Mann, der ein Pferd heiratete. Oder eine Frau, die innerhalb von zehn Stunden mit 251 Männern geschlafen haben soll. Und so weiter.
Das Publikum war besessen. So viel Spleen und rohe Emotion hatte man auf den Bildschirmen noch nie gesehen. 1998 hatte die Sendung über 8 Millionen Zuschauer pro Episode, die Einschaltquoten überholten die damals berühmteste US-Talk-Show von Oprah Winfrey. 2002 wurde Springers Show zur «worst TV show of all times» gekürt. Springer und sein Team hätten sich keine bessere Auszeichnung erträumen können. Sie gefielen sich als Bad Boys der Fernsehindustrie, die als geschmacklos galten, aber auch verdammt erfolgreich waren.
«Es war ein endloser Zirkus»
Eigentlich hatte Springers Karriere harmlos begonnen. Die Show, mit der er 1991 startete, war eine Politsendung, in der Themen wie Waffenpolitik und Obdachlosigkeit diskutiert wurden. Eine Ausrichtung, die wie massgeschneidert für Springer schien. Er hatte Politikwissenschaften und Jura studiert, als Reporter gearbeitet und war Bürgermeister von Cincinnati gewesen. Aber die Einschaltquoten waren schlecht.
Also wurde die Show Mitte der 1990er Jahre neu kalibriert. Es brauchte mehr Biss, mehr Provokation. Das Studio wurde von einer nüchtern-weissen Kulisse in eine gemütliche Backsteinhöhle verwandelt. Die Idee: 43 Minuten Geschichten, die die Menschen wirklich bewegen, das Motto: «Real people, real issues, real life». In der ersten Episode leitete Springer vor laufender Kamera eine Familienzusammenführung. Das war eine Prise emotionaler als sein Polittalk, aber noch immer zu brav, um die Massen anzuziehen.
Als der Produzent Richard Dominick ab Mitte der 1990er Jahre in die Show einstieg, pushte er Springer in die Extreme. «From now on you do only crazy», soll es auch von NBC Universal geheissen haben, das die Show über 26 Jahre lang produzierte. Es wurden Stripper und Klan-Leute eingeladen, Dicke, Zwergwüchsige und Transvestiten. Aber auch einfache Amerikaner, deren Leben Stoff für Drama bot.
Die Gäste gaben vor laufender Kamera Intrigen und Geheimnisse preis. Anschliessend wurden die ahnungslosen Betrogenen und Betroffenen auf die Bühne gebeten – und es kam zum Streit. Von Beleidigungen bis zum Zweikampf vergingen oft wenige Sekunden.
Springer trat als Talkshow-Dompteur in Anzug und Krawatte auf. Ein blonder, eher zurückhaltender Typ, der ab und an etwas cheesy in die Kamera grinste, aber sonst eher angepasst wirkte. Wenn es ihm auf der Bühne zu heftig wurde, zog er sich ins Publikum zurück, in dem hauptsächlich College-Studenten sassen.
Jahr für Jahr trieben die Produzenten die Show weiter auf die Spitze – Hauptsache, mehr Eskalation, mehr Sex, mehr Demütigung. Ab da bestand auch der Grossteil der Sendung aus Beeps, um die vielen «Fucks» und «Bitches» auszublenden. Als die Auseinandersetzungen zu Prügeleien wurden, mussten Security Guards eingestellt werden. Das Publikum brüllte: «Jer-ry!, Jer-ry!» und feuerte mit erhobenen Fäusten den Konflikt an. Springer sagte: «Es war ein endloser Zirkus.»
Amerika, die «Jerry Springer Nation»
Natürlich gefiel das nicht allen. Man begann von der «Jerry Springer Nation» zu sprechen, Kritiker fürchteten, die Show habe einen schlechten Einfluss auf die Moral des Landes. Sie sei erniedrigend, ausbeuterisch, pervers und spalte das Land, so der demokratische Senator von Connecticut Joseph Liebermann 1996. Es war von Voyeurismus die Rede, von einer Freakshow.
Schliesslich wurden die ersten Versuche unternommen, die Show zu verbieten. 1999 debattierte das Chicago City Council, ob die Ausschreitungen in der Sendung strafrechtlich geahndet werden sollten. Zwar seien die Kämpfe real, so Springer. Trotzdem verherrliche seine Show keine Gewalt. Das Gericht beschloss, nicht einzugreifen, solange die Handgreiflichkeiten gedrosselt würden.
Im Jahr 2000 sorgte der Fall Panitz für die nächste Kontroverse. In der Episode «Secret Mistresses Confronted» trat Mr. Panitz mit seiner Frau Eleanor auf. Das Paar beschuldigte seine Ex-Frau des Stalking. Sie wurde wenige Stunden nach der Ausstrahlung tot aufgefunden. 2002 wurde Mr. Panitz des Mordes verurteilt. Es war der Kipppunkt einer Show, die mit Skandalen und Tragödien Geld machte.
Das Geschäft mit dem Drama
Jeden Tag würden in der Show unglückliche Menschen mit dysfunktionalen Beziehungen dazu angespornt, sich an die Gurgel zu gehen, schrieb der «Guardian», nachdem der Fall publik geworden war. In US-Medien erschienen Aussagen von ehemaligen Gästen, die von einer «Fight-Quota» berichteten. Vor dem Dreh seien sie dazu angehalten worden, aufeinander loszugehen.
Aber wer waren die Menschen, die zu Springer in die Show kamen?
Eine ehemalige Assistentin der Show erzählt in einem Vice-Dokumentarfilm, dass das Team vorsätzlich «messies» gecastet habe. Menschen mit einem Hang zum Drama, die eine kostenlose Reise und Aufmerksamkeit wollten. Gäste aus dem ganzen Land wurden nach Chicago geflogen und in Hotels mit Room-Service untergebracht. Am Drehtag fuhr man sie mit einer Limousine ins Studio, in dem Glauben, dass dies der grösste Tag ihres Lebens sein könnte.
Kurz bevor sie auf die Bühne gingen, wurden sie von den Produzenten aufgeheizt. «Alle da draussen müssen die Wahrheit wissen», sollen sie gesagt haben oder: «Du musst ihn herausfordern». Die «money shots» seien die Momente gewesen, in denen die Gäste ihre Kontrolle verloren hätten und nur noch rohe Emotion sichtbar gewesen sei.
Nach der Show wurden die Gäste fallengelassen. «Bring them in by limos, bring them home by cab», so das Sprichwort aus dem Trash-TV-Business. Der Psychiater Jamie Huysman gründete ein ganzes Therapie-Programm namens AfterCare, das sich um die Folgen kümmerte, die solche TV-Auftritte bei Betroffenen auslösten.
«Trump belongs on my show»
Der Produzent Richard Dominick, der oft als der eigentliche Bad Boy beschrieben wird, der hinter den Kulissen die Eskalation ankurbelte, wies die Kritik zurück. «Menschen, die nie als wichtig genug befunden wurden, um im Fernsehen aufzutreten, hatten ihren Moment, ihre Chance, ihre Geschichte zu erzählen», so Dominick. Gegenüber dem «Daily Telegraph» soll er auch gesagt haben: «Wenn ich einen Kriminellen vor laufender Kamera exekutieren könnte: Ich würde es machen.»
Und Springer? Der gab sich völlig liberal. Die Frage, ob es Reality-TV überhaupt geben sollte, beantwortete er so: «Wenn man sich dafür ausspricht, dass normale Menschen ins Fernsehen kommen und über ihr Leben sprechen, kann man nicht all die Teile zensieren, die man nicht mag. Und wenn man sie nicht ins Fernsehen lässt, diskriminiert man sie, was antidemokratisch ist.»
Eher schon nimmt man ihm ab, wenn er sagte: «Wenn Sie intellektuell sein wollen, lesen Sie ein Buch. Das hier ist Entertainment.» Und Entertainment, das konnte er. Niemand könne Guilty-Pleasure-TV zu einer grösseren Kunst vollenden als Springer, so der amerikanische Journalist Steven Reddicliffe. Die Frage ist nur, auf wessen Kosten.
Im Herbst 2016, mitten im letzten US-Wahlkampf, schrieb Springer auf Twitter: «Hillary Clinton belongs in the White House. Donald Trump belongs on my show». Das pfeffert, könnte man auf den ersten Blick denken. Aber was sagt es darüber aus, wie Springer über die Gäste seiner Show dachte? Gut genug für eine Talkshow, aber bitte, bitte, niemals sollten sie die Politik des Landes mitbestimmen.