Der deutsche Historiker gehört zu den besten Kennern Osteuropas und warnte als einer der Ersten vor Putins aggressiver Expansionspolitik. Dieses Jahr erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Herr Schlögel, wir sitzen in Ihrer Wohnung in Berlin, und rund tausend Kilometer weiter östlich tobt ein Krieg, der kein Ende findet. Waren Sie seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder in Russland?
Nein. Seit 2019 nicht mehr. Ich hatte vor dem Krieg einen Antrag gestellt, weil ich eine Einladung ans Deutsche Historische Institut hatte. Aber es gab kein Visum. Und jetzt kann ich sowieso nicht mehr fahren.
Aber in die Ukraine sind Sie regelmässig gereist?
Ja. Der letzte Besuch liegt etwas länger zurück. Aber gerade jetzt fahre ich für ein paar Tage nach Lwiw. Und ich möchte bald wieder für längere Zeit hingehen. Auch nach Charkiw und Odessa, wenn das möglich ist.
Sie sind Historiker, aber Sie betonen, dass Geschichtsschreibung nicht am Schreibtisch entstehen kann, sondern dass die konkrete Anschauung entscheidend ist: von Städten, Landschaften, Menschen.
Ja, die Welt ansehen, sie bereisen, das war für mich immer wichtig. Dabei geht es mir um das Nicht-Absichtsvolle, das Sich-treiben-Lassen. Das kann eine sehr produktive Erkenntnisweise sein. Natürlich sagen dann manche Historiker, das sei mehr Literatur als Geschichtsschreibung. Aber für meine Geschichtsschreibung ist es wichtig, dass sie sich nicht nur zeitlich ereignet, sondern auch auf Schauplätzen stattfindet.
Sie meinen damit, dass die Spuren der Geschichte ablesbar sind in Städten, Häusern, in Landschaften.
Ja, und ich bin überzeugt davon, dass das Zusammendenken von Raum und historischer Zeit von entscheidender Bedeutung ist, wenn man Geschichte verstehen will. Zum Beispiel die manchmal irritierende Gleichzeitigkeit von Ereignissen: In Moskau geht auch jetzt noch alles seinen geordneten Gang. Restaurants und Cafés sind voll, die Menschen gehen einkaufen, auf den Strassen gibt es Staus, am Abend finden Theatervorstellungen und Konzerte statt – und nicht weit davon findet ein barbarischer Krieg statt, von dem man im Fernsehen Bilder sehen kann. Wie ist eine Gesellschaft beschaffen, die das verkraftet? Die Normalität und Barbarei zusammenbringt?
Wie erklären Sie es sich?
Vielleicht kann man es nicht erklären, aber man muss sich dieses Nebeneinander bewusst machen. Am 1. September 1939 waren die Cafés am Kurfürstendamm in Berlin auch voll, am Abend gab es Theaterpremieren, Modeschauen. Gleichzeitig rollten die Panzer über die Grenzen. Das ist Ausdruck der Komplexität der Welt und der Heillosigkeit von historischen Situationen.
Sie sind schon sehr früh nach Russland gereist. Als Gymnasiast in den sechziger Jahren.
Ja, ich besuchte eine Internatsschule der Benediktiner in Bayern. Dort gab es einen Sportlehrer, der nach dem Krieg aus Ostpolen als Displaced Person nach Deutschland kam. Er sprach Russisch und gab uns die Möglichkeit, Russisch zu lernen. Wir waren eine kleine Gruppe von Schülern und haben uns sehr engagiert für das Fach. Wir haben Fachleute zu Vorträgen eingeladen. Und eine Reise nach Russland organisiert. Fünf, sechs Wochen waren wir unterwegs.
Wie haben Sie Russland damals erlebt?
Ich kann es nicht anders formulieren: Ich merkte, dass es jenseits dieser Bundesrepublik etwas ganz anderes gab, was damals, in der Zeit des Kalten Krieges, natürlich sehr fern und fremd war.
Stimmt es, dass Sie als Jugendlicher dem damaligen russischen Ministerpräsidenten Chruschtschow einen Brief geschrieben haben?
Ja, das stimmt.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Ich bin in einem kleinen Dorf im Allgäu aufgewachsen. Da hörte ich jeweils Radio Moskau, und da war von Chruschtschow die Rede. Irgendwie ist eines zum anderen gekommen, und ich habe den Brief geschrieben. Auf Deutsch, damals konnte ich noch kein Russisch.
Was haben Sie geschrieben?
Genau weiss ich es nicht mehr. Ich schrieb, dass ich mich für Russland und für russische Literatur interessieren würde. Ein paar Monate später brachte der Postbote zwei Pakete mit Büchern aus Moskau zu uns nach Hause.
Später haben Sie osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Gab es dafür ein Initialerlebnis?
Das entscheidende Erlebnis war es, aus Deutschland herauszugehen. Hinter den Eisernen Vorhang zu blicken und eine neue Welt zu entdecken. Sehr früh fuhr ich auch nach Prag, ich bekam die Stimmung vor dem Prager Frühling mit. Nach dem Abitur habe ich wegen des Vietnamkriegs den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst gemacht. Schliesslich beschloss ich, nach Berlin zu gehen, und bin mit führenden Figuren der Studentenbewegung in Kontakt gekommen.
Sie waren Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei in Deutschland.
Ja, ich schloss mich einer maoistischen Parteiinitiative an, es war eine sehr bewegte Zeit, und ich war ziemlich lange dabei. Ich nahm das sehr ernst, bei allem Lächerlichen und Merkwürdigen, was es da gegeben hat. Zugleich hatte ich aber immer Kontakt mit der Dissidentenszene im östlichen Europa.
Dann sind Sie für längere Zeit nach Russland gegangen.
Ja, aber erst spät. Das Studium habe ich in Deutschland abgeschlossen. Anfang der achtziger Jahre ging ich für eine Forschungsarbeit zur Geschichte der russischen Intelligenz nach Moskau. Erst da bin ich aus einer ideologisch bornierten und sektiererischen Wahrnehmung der Welt herausgetreten.
Was hat Ihr politisches Denken verändert?
Das Wichtigste war die Selbstreflexion des Scheiterns des politischen Aktivismus Ende der siebziger Jahre, als ich mich mit der Geschichte der russischen Intelligenz beschäftigte. Die Spätzeit der Breschnew-Regierung war bleiern. Es war wie ein langes Dahinsiechen des Systems. Dissidenten wurden in Lagern interniert oder ins Exil geschickt. Die repressive Atmosphäre war zermürbend, aber in der Gegenkultur im Untergrund lernte man auch ein ganz anderes Russland kennen.
Haben Sie mit diesen Leuten noch Kontakt?
Ja, ich habe mit einigen noch Kontakt. Viele leben heute im Westen, in den USA, in Israel oder in Deutschland. Das Milieu der Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre, als sich die Opposition in den legendären Moskauer Küchen traf und man nächtelang diskutierte, das gibt es wohl nicht mehr. Die jungen Leute wissen heute auch nicht mehr, was das war: die sowjetische Welt. Deswegen sind sie so anfällig, alles zu glauben, was die staatlichen Sender ihnen erzählen: wie gut es jetzt unter Putin geworden ist.
Putins Krieg geht ins vierte Jahr. Als er im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, waren fast alle westlichen Beobachter überrascht. Sie auch?
Der entscheidende Einschnitt war für mich die Besetzung der Krim 2014. Insofern war ich darauf vorbereitet, dass etwas kommen könnte. Aber dass es dann wirklich eintrat, das war für mich trotzdem ein Schock. Ich war in dem Sinn vorbereitet, wie ich auf den Fall der Mauer vorbereitet war. Aber als die Mauer am 9. November 1989 tatsächlich fiel, war man darauf nicht gefasst. So war es auch mit dem 24. Februar 2022.
Warum erwartete man diesen Schritt von Putin nicht?
Man unterschätzte seine Bereitschaft, aufs Ganze zu gehen, ein scharf kalkuliertes Risiko einzugehen. Amerika hatte gerade auf fast schändlich erniedrigende Weise Afghanistan verlassen. Das hat Putin genau kalkuliert und betreibt bis heute mit Erfolg sein Spiel der Eskalation.
Als Putin 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, galt er für viele Beobachter im Westen als Hoffnungsträger. Hatten Sie damals auch diesen Eindruck?
Ich war zuerst überrascht, als dieser blasse, unsicher wirkende Mann an die Stelle des kranken, aber doch körperlich massiven Präsidenten Jelzin treten sollte. Aber mich haben diese Wechsel in der Führungsebene damals nicht besonders interessiert.
Warum nicht?
Für mich war das, was da oben, in den Führungsgremien, passierte, zweitrangig. Das hatte mit meinem Verständnis von Geschichte zu tun. Mich interessiert das, was an der Basis, im Alltag, in der Gesellschaft geschieht, nicht so sehr die Haupt- und Staatsaktionen. Was mich fasziniert, sind die langen und mikrologischen Prozesse der Gesellschaftsbildung.
Was hat Sie an der postsowjetischen Gesellschaft interessiert?
Die neuen Formen der Selbsttätigkeit, der Selbstorganisation, der Öffentlichkeit. Was sich auf den Märkten getan hat, wie Russland durch die Öffnung der Grenzen plötzlich Kontakt zur Aussenwelt aufnahm. Auf einmal konnte man Flüge von Moskau nach Miami buchen. Es gab ein vibrierendes soziales und kulturelles Leben . . .
. . . das auf wenige Städte beschränkt war und an dem längst nicht alle teilnehmen konnten . . .
Natürlich, es gab ungeheure Härten und Verwerfungen. Auf der einen Seite sagenhaften Reichtum, Luxus. Und daneben Armut, viel schärfer als alles, was wir im Westen kennen. Die Gründe, die dazu geführt hatten, und die Folgen, die das hatte, beschäftigten mich. Dass eine einzelne Figur einen frei gewordenen Platz an der Spitze der Gesellschaft besetzen und das ganze Land auf ein neues Gleis führen könnte, das war mir damals noch nicht klar.
Hätten Sie der neuen Gesellschaft, die sich damals gebildet hat, zugetraut, dass sie das Land in eine neue Richtung führt? Zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie?
Ich hatte eine Art Grundvertrauen. Aus der Erfahrung, dass die Sowjetmenschen Krisen sehr gut bewältigen konnten. Sie fanden sich auch in ausweglosen Situationen zurecht und wurden mit Dingen fertig, die bei uns sofort eine totale gesellschaftliche Panik ausgelöst hätten. Wenn es in den Läden nichts zu kaufen gibt, dann gibt es den Basar, und man pflanzt sein eigenes Gemüse in der Datscha. Wenn in den wilden 1990er Jahren der Betrieb über Nacht geschlossen wurde, musste man sich ganz neu orientieren. Für Millionen war das eine grausame Erfahrung.
Sie erwarteten eine Reform von unten?
Ja, meine Zuversicht beruhte nie darauf, dass Reformen von oben kommen, von der Regierung. Ich sah nie eine Exekutive, die daran interessiert war oder die das hätte umsetzen können. Mein grosser Schock war dann, dass sich diese mit sich selbst beschäftigte Gesellschaft zum Abenteuer der Krimbesetzung, zum Krieg hat hinreissen lassen. Darauf war ich nicht gefasst.
Liessen sich die Menschen wirklich hinreissen? Oder machten sie es mit, weil sie sich nicht widersetzen konnten? Sie beschreiben eine Gesellschaft, die sich alles Politische vom Leib hält und schaut, dass sie den Alltag halbwegs bewältigt. Die Kriegsbegeisterung, die öffentlich inszeniert wird, ist ja kaum real.
Das ist richtig. Die Leute wollten als gebrannte Kinder nichts zu tun haben mit der Politik. Sie machen sich keine Illusionen, trauen dem Staat und der Politik nichts zu und sind vollauf damit beschäftigt, sich im Alltag durchzuwursteln. In dieses Vakuum stossen die Profis der Macht vor. Putin hat das instrumentalisiert und eine Macht ausgebaut, die ihm niemand streitig machen wollte. Er beschwor fiktive Einkreisungsängste und Bedrohungsszenarien und schaltete die wenigen unabhängigen Stimmen nach und nach aus.
Und die Eliten zogen es vor, von der Situation zu profitieren, Geld zu machen, statt dass sie sich für eine Zivilgesellschaft und für demokratische Reformen eingesetzt hätten – trifft das zu?
Ich weiss nicht, ob man mit den Begriffen, mit denen wir die westliche Gesellschaft beschreiben, in Russland weit kommt. Strukturreform, Demokratie, Zivilgesellschaft, das sind Hilfsbegriffe, die wir benutzen, weil wir keine anderen haben. Der Wildheit der Verhältnisse, die in den neunziger Jahren in Russland herrschten, werden sie nicht gerecht. Da entschied die Macht über Wahrheit und Unwahrheit. Die Kalaschnikow bestimmte, wer sich einen Betrieb oder eine Bank unter den Nagel reisst.
Wie kann man diese Verhältnisse analytisch beschreiben?
Man muss die alten Strukturen der Kommunistischen Partei kennen, die Vermögensverhältnisse, die Besitzstrukturen der Immobilien. Da herrschte ein wilder Umverteilungskampf. Die Leute, die im richtigen Augenblick am richtigen Ort waren, wurden über Nacht zu Milliardären. So etwas hat es in der Geschichte vorher noch nie gegeben. Wenn man auf die «robber barons» in den USA des späten 19. Jahrhunderts verweist, auf Carnegie und Rockefeller, dann ist das eine falsche Analogie. Diese Leute hatten etwas erfunden, sie verstanden etwas von Management, sie bauten etwas auf. Der Reichtum der russischen Oligarchen beruht nicht auf einer wirklichen Neuerung, sondern darauf, dass sie sich auf unverschämte Weise am gesellschaftlichen und staatlichen Eigentum bedienten.
Eine Art Mafia . . .
Auch das ist ein Hilfsbegriff, auch wenn er wichtige Züge beschreibt. Netzwerke, Seilschaften, Verbindungen von organisierter Kriminalität und Geheimdienst. Die Leute, die heute um Putin herum sind, kennen sich alle aus den achtziger und neunziger Jahren. Sie bilden ein Machtgefüge, das von gegenseitigen Loyalitäten und Abhängigkeiten zusammengehalten wird. Das müssen wir beschreiben als Soziologen und Historiker. Und daraus die analytischen Begriffe entwickeln, um den Putinismus zu verstehen.
Können wir die Gegenwart überhaupt so betrachten wie die Vergangenheit? Sind wir nicht zu nahe, um scharf zu sehen?
Das ist ein grosses Problem. Mir fällt hier immer wieder der Philosoph Ernst Bloch ein. Er spricht vom «Dunkel der gelebten Gegenwart»: Über die Vergangenheit wissen wir meistens mehr als über die Gegenwart. Und vor allem wissen wir, wie die Sache ausgegangen ist. Für die Zukunft können wir Szenarien entwerfen. Aber der analytisch wirklich harte Kern ist die Gegenwart, in die wir selbst verwickelt sind und über die wir keine Übersicht haben.
Gibt es heute in Russland noch eine Opposition? In Ihrem neuen Buch, das bald erscheint, reden Sie vom «anderen Russland». Und betonen, wie wichtig es sei, dass dieses «andere Russland» auch im Westen eine Stimme habe.
Es gibt ein Russland neben dem offiziellen, kriegführenden Russland Putins. Was dieses andere Russland ist, ist allerdings immer schwieriger zu sehen hinter dem Russland, das die Propaganda beschwört. In den vergangenen zwanzig Jahren haben mehr als zwei Millionen Menschen Russland verlassen. Ein Aderlass, noch grösser als nach der russischen Revolution.
Sie appellieren in Ihrem Buch an die Verpflichtung des Westens. Was kann der Westen konkret tun, um die Opposition zu unterstützen?
Ich halte es für entscheidend, die Informationskanäle und die Kommunikation nicht abreissen zu lassen. Dass Trump USAID und wichtige Sender wie Radio Liberty oder Radio Free Europe eingestellt hat, ist fatal. Weil da Stimmen verstummen, die nicht verstummen dürfen. Der Westen sollte zudem grosszügig sein in der Unterstützung derer, die Russland verlassen mussten. Ihnen helfen, Jobs zu finden, die ihren Kompetenzen und Fähigkeiten entsprechen.
Im Westen sagt man oft, Russland sei nicht fähig zur Demokratie. Halten Sie das für richtig?
Die gesellschaftlichen Kräfte, die demokratische Institutionen erkämpfen, tragen und sichern könnten, sind schwach. Aber ich teile die Auffassung nicht, Russland sei dazu verurteilt, immer wieder in autokratische Verhältnisse zurückzufallen. Es hat seit dem 19. Jahrhundert mehrfach Entwicklungen in Richtung Selbstverwaltung, unabhängigen Gerichtswesens und Öffentlichkeit gegeben. Allerdings wurden diese Fortschritte immer wieder zerstört, bevor sie stark genug waren. Durch Krisen, Kriege und Katastrophen. Niederlagen gaben aber auch immer wieder Anstoss zu gesellschaftlicher Umwälzung – so der Krimkrieg, der russisch-japanische Krieg, sogar der Afghanistankrieg, der dazu beigetragen hat, das alte Regime zu erschüttern. Ich will daraus nicht ableiten, dass aus der Asche des gegenwärtigen Kriegs ein Phönix hervorgehen könnte. Aber ich will dem Fatalismus widersprechen, Russland sei grundsätzlich nicht zu Erneuerung fähig.
Ihr neues Buch trägt den Titel «Auf der Sandbank der Zeit». Sie beschreiben mit diesem Bild den Augenblick nach der Besetzung der Krim durch Russland, in dem Europa gestrandet ist und sich nicht mehr bewegen kann. Kann sich Europa aus der Blockade befreien?
Ich hoffe es. Es gibt geschichtliche Situationen, in denen ein ausserordentlicher Druck oder eine Katastrophenerfahrung zur Freisetzung von zuvor nicht gekannten Kräften geführt hat. Die Niederlage Preussens in den antinapoleonischen Kriegen hat zu einem ungeheuren Modernisierungsschub in Preussen geführt. In gewisser Weise gilt das auch für Russland nach dem Krimkrieg im 19. Jahrhundert. Die Belastungen, die auf die Europäische Union oder die europäischen Staaten zukommen, werden den Druck steigern. Vielleicht so stark, dass Reformen, die immer schon in der Luft gelegen haben, tatsächlich in Angriff genommen werden.
Sehen Sie Anzeichen dafür?
Zurzeit ist alles offen. Ich glaube, es wird zu einer Spaltung in Europa kommen – entlang der Haltung der Staaten zum Ukraine-Krieg. Sie wird zu einem Prüfpunkt werden. Die Lage ist sehr ernst. Nicht nur für die Ukraine, sondern auch für den Westen. Das kann man natürlich als Erpressungsrhetorik verstehen, um Menschen einzuschüchtern, die immer noch nicht verstanden haben, was geschieht. Aber ich meine es nicht so. Sondern als Aufforderung, Abschied zu nehmen von einer Welt, die es so nicht mehr gibt, und sich der Realität zu stellen.
Sie haben sich schon sehr früh dafür ausgesprochen, dass der Westen, dass Deutschland Waffen an die Ukraine liefert.
Ja, und daran halte ich fest. Alle, die jetzt nichts anderes fordern als Frieden, sollten zur Kenntnis nehmen, was sich in diesem schrecklichen Krieg abspielt. Tag für Tag fallen Bomben auf die Ukraine. Einfach nur zu sagen, der Krieg müsse sofort beendet werden, reicht nicht aus. Die Frage ist, wie er beendet wird.
Wie sieht Russland in fünf Jahren aus?
Ich gehe davon aus, dass auch die Ressourcen des Putin-Regimes begrenzt sind und dass der Augenblick kommen wird, wo diese Grenzen sichtbar werden. Was in fünf Jahren ist, weiss ich nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich Russland wieder bereisen und mir selbst einen Eindruck verschaffen kann.
Geschichte im Alltag
rib. Geschichte zeigt sich nicht nur in Kriegen, Verhandlungen und Verträgen. Sondern auch im Kleinen. Karl Schlögel hat ein Faible für die Spuren der Geschichte im Alltag. Im Buch «Der Duft der Imperien» erzählt er anhand der Parfums Chanel No. 5 und Rotes Moskau von den Abgründen Europas im 20. Jahrhundert. Im Buch «Im Raume lesen wir die Zeit» zeigt er anhand von Landkarten, Fahrplänen und Adressbüchern, wie sich die Welt und unser Verhältnis zu ihr verändert hat. Der 77-Jährige gehört zu den renommiertesten europäischen Historikern. Er lehrte zunächst an der Universität Konstanz, dann an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Sein neustes Buch, «Auf der Sandbank der Zeit. Der Historiker als Chronist der Gegenwart» (Hanser-Verlag 2025), versammelt Essays zu Russland aus den vergangenen Jahren. Am 19. Oktober wird ihm in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

