Sonntag, Oktober 6

Die russische Armee greift weiterhin Charkiw an, bis jetzt mässig erfolgreich, dafür mit hohen Verlusten. Während Putins Regime nach aussen wild um sich schlägt, wächst im Innern eine Schwäche heran, über der das Land kollabieren könnte.

Das Ende des Juni in Charkiw war gefährlicher als der Anfang. Am Anfang des Monats wurde endlich der russische S-300-Komplex in der Nähe des an der Grenze gelegenen Belgorod in die Luft gejagt, und eine ganze Woche lang gingen wir in Charkiw gelassen durch die Strassen, schliefen ein und wachten ruhig auf, fast ohne Angst um unser Leben. Dann begannen die Russen erneut, uns mit Gleitbomben zu bewerfen.

Normalerweise erreichen diese Geschosse nur den nördlichen Teil der Stadt. Erst gestern, als ich vor Ort war, musste ich mich wieder auf den Boden werfen, als eine solche Bombe mit markerschütterndem Brüllen über meinen Kopf hinwegflog. Und heute wieder, als ich ein Flugzeug hörte, das wahrscheinlich ein Bomber war.

Inzwischen bin ich es so gewohnt, mich flach hinzulegen, dass ich mir zuvor sogar eine saubere Stelle aussuche. Vor ein paar Tagen jedoch flogen mehrere dieser Bomben fünfzehn Kilometer weiter als gewöhnlich, erreichten den südlichen Teil der Stadt, töteten Menschen und zerstörten ein Wohnhaus. Niemand weiss, wie es dazu kommen konnte und warum die Bomben plötzlich weiter fliegen. Auch die Kaliber werden immer grösser. Gestern warfen die Russen zum ersten Mal eine fünfhundert Kilogramm schwere Bombe auf Charkiw ab.

Obwohl es in Charkiw keine russischen Denkmäler, Symbole oder Inschriften mehr gibt, geht die Dekolonisierung, sprich der Prozess der Ausradierung alles Russischen, erfolgreich weiter. Am 5. Juni wurde der Sockel, auf dem das Puschkin-Denkmal gestanden hatte, gesprengt, und einige Tage zuvor wurde dem Denkmal des unbekannten Mannes mit Buch und Feder die Hand abgerissen.

Es war einst ein Denkmal für den russischen Universalgelehrten und Wissenschafter Lomonossow, aber nachdem die Inschrift darauf getilgt worden war, wurde es zum Denkmal eines stolzen Mannes mit einer Perücke, der lesen und schreiben konnte.

Jetzt ist auch noch das namenlose Denkmal entkolonialisiert worden. Solche Dinge machen mir immer Angst, nicht weil ein Steingebilde für irgendeinen russischen Dichter wichtig wäre, sondern weil jeder Hass auf die Kultur eines anderen stets auf der eigenen Mittelmässigkeit aufbaut. Das ist immer so, sogar im Krieg.

Keine Pilze mehr

Die allgemeine Mobilisierung geht weiter, und es finden sich immer weniger Männer auf den Strassen von Charkiw. Leider gibt es auch am Arbeitsplatz immer weniger Männer. Kein Wunder, sieht die Liste der gefragtesten Frauenberufe heute deprimierend aus: Maschinist, Kranführer, Monteur, Unter-Tag-Maschinist, Lader, Bergmann.

Wilde Pilze, welche alte Leute früher in den Wäldern sammelten, sind von Charkiws Märkten völlig verschwunden. Im ersten Kriegssommer gingen pensionierte Frauen und Männer trotz ständigem Beschuss tapfer weiter in die Wälder und sammelten Pilze, wobei sie manchmal auf Minen traten und Leib und Leben riskierten.

Im ersten Kriegsjahr gab es Pilze an jeder Strassenecke. Im nächsten Jahr konnte ich nur noch einmal welche ergattern. In diesem Jahr gibt es überhaupt keine Pilze zu kaufen, obwohl es in den Wäldern um Charkiw sehr viele davon geben muss. Was bedeutet, dass die wagemutigen alten Leute, die früher in die Pilze gingen, endlich begriffen haben, dass Krieg eine gefährliche Sache ist. Vielleicht sind sie aber auch in den Wäldern gestorben, ausgewandert oder auf andere Weise vom Winde verweht worden und nicht mehr zurückgekehrt, wie unsere ganze Vorkriegsexistenz.

Heute halten die fernen Explosionen den ganzen Abend und bis in die Nacht hinein an. Sie sind nicht laut, aber kräftig und bringen das Haus leicht zum Wackeln. Sie sind ähnlich wie Herzschläge: Fast unhörbar, kommen sie wie aus dem Inneren der Brust und erschüttern alles. Es sind dieselben Geräusche, die wir am 24. Februar 2022, bei Anbruch des Krieges, um fünf Uhr morgens gehört haben.

Wahrscheinlich ist nördlich von Charkiw eine Schlacht im Gange. Ich gehe zum Fenster und sehe, dass der Nachthimmel unheilvoll rot gefärbt ist. Alle paar Sekunden erhellen Blitze den Himmel. Die Knallwellen, die uns erreichen, fallen aus dem Takt, da der Schall durch die Entfernung um einiges später eintrifft. Von Zeit zu Zeit schiessen über dem dunkelroten Schein Raketen in die Höhe. Sie wirken wie Feuertropfen, orange oder fast weiss, und sie scheinen in unsere Richtung zu fliegen, aber die ganze Szenerie ist zu weit weg, als dass man Genaueres sagen könnte.

All das erinnert zu sehr an den ersten Morgen des Krieges, als dass ich ruhig zu schlafen vermöchte. Andererseits könnte das, was wir sehen, die Arbeit unserer weitreichenden Artillerie sein, welche die ganze Nacht durchfeuert, um die Russen weiter zu vertreiben. Vielleicht bewegen sich die Feuertropfen tatsächlich Richtung Russland. Wie dem auch sei, in den Nachrichten wird nichts darüber berichtet.

Die Taktik der Russen beim Angriff auf Charkiw gleicht der eines Fliegenschwarms, der sich über einen Topf voll Marmelade hermacht. Nach jedem Schlag mit der Fliegenklatsche ziehen sie sich kurz zurück, stürmen dann aber mit hirnloser Beharrlichkeit wieder vorwärts, ziehen sich dann erneut zurück, um der Fliegenklatsche zu entkommen, rücken dann wieder vor und so weiter ad infinitum. Es sind zu viele Fliegen, und das verleiht ihnen den Glauben, dass sie die Fliegenklatsche früher oder später besiegen werden. Oder sie hoffen, dass uns früher oder später jemand, zum Beispiel der neue US-Präsident, die Fliegenklatsche wegnehmen wird.

Mit jedem Kriegsjahr werden die Fliegen hartnäckiger und wütender. Im Jahr 2022 verlor Russland jeden Monat etwa 12 000 Mann, sie kamen um oder wurden verwundet. 2023 stieg diese Zahl auf 20 000, und jetzt, im dritten Jahr, belaufen sich die unersetzlichen Verluste der russischen Armee auf gegen 30 000 Menschen pro Monat. Es handelt sich hierbei um Zahlen aus offiziellen ukrainischen Quellen, die vielleicht nicht ganz genau sind, aber den Haupttrend korrekt wiedergeben. Die Intensität der Feindseligkeiten hat sich inzwischen mehr als verdoppelt.

Realistische Aussicht

Russland bedroht Charkiw aus drei verschiedenen Richtungen. Neben der Bedrohung aus dem Norden gibt es noch eine Bedrohung aus dem Osten, wo die russischen Truppen neunzig Kilometer vor der Metropole aufgehalten wurden. Eine weitere Bedrohung kommt aus dem Süden, wo der Feind langsam und schrittweise weiter vorrückt. Bis jetzt sind die Russen zweihundert Kilometer von Charkiw entfernt, aber wenn das Tempo ihres Vormarsches anhält, werden sie die Grenzen der Stadt in etwa drei Jahren erreichen. In Anbetracht der dummen Hartnäckigkeit der Fliegen ist das eine realistische Aussicht.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Trend in diesem Krieg: Er verlagert sich mehr und mehr in feindliches Gebiet. Das Leben in Russland wird immer unsicherer, und zwar nicht nur in den Regionen an der Grenze zur Ukraine, wo Raketen vom Himmel fallen und Häuser zusammenstürzen. Überall wird das Leben härter und unruhiger.

Dieser Prozess ist so umfassend und vielschichtig, dass es nicht mehr möglich ist, ihn aufzuhalten. Die Ukraine hat die Erlaubnis erhalten, grenznahes russisches Gebiet mit modernsten westlichen Waffen zu beschiessen. Aber auch ohne diese Erlaubnis dringen ukrainische Drohnen mehr als tausend Kilometer tief in feindliches Gebiet vor.

Die ukrainische Neptun entwickelt sich zu einem vollwertigen Marschflugkörper, der irgendwann Moskau erreichen wird, und die Massenproduktion dieser Raketen hat bereits begonnen. Russische Schiffe sinken auf den Grund, weil sie sich nicht einmal in russischen Häfen vor ukrainischen Seedrohnen sicher verstecken können. Die russischen Raffinerien und Ölterminals brennen weiter.

Putin muss mittlerweile nach Nordkorea und dann nach Vietnam reisen, um dort um Waffen zu betteln, und dann murmelt er etwas von «Russlands strategischer Niederlage». Die russische Tochtergesellschaft der Bank of China setzt wegen der amerikanischen Sanktionen ab dem 24. Juni alle Geschäfte mit russischen Banken aus. Und so weiter.

All das erinnert an einen riesigen Bären, der sich gegen ein Rudel Wölfe wehrt. Sobald der Bär versucht, einen der Wölfe anzugreifen, und sich ihm zuwendet, beissen drei oder vier weitere Wölfe dem Bären in den Hintern. Der Bär ist zu gross und sein Fell ist zu dick, als dass er eine Wunde erlitte, aber er kann diesen Kampf nicht gewinnen.

Im Innern ausgepowert

Drei Monate sind seit dem Terroranschlag auf die Moskauer Crocus City Hall vergangen, und nun hat sich ein weiterer Anschlag ereignet, diesmal in Dagestan, wo fünf Militante fünfzehn russische Polizisten getötet haben. Es sollte klar sein, dass ein Polizist in einer militarisierten Gaunerdiktatur wie Russland etwas ganz anderes ist als ein Polizist in einem zivilisierten Land. Seine Aufgabe besteht nicht darin, «zu dienen und zu schützen», sondern vielmehr darin, «zu drohen und zu schaden». In Russland und insbesondere in den kleinen russischen nationalen Republiken werden Polizisten von allen, ausser ihren Freunden und Verwandten, aufrichtig gehasst.

Über den Terroranschlag in Dagestan hat Putin nichts verlauten lassen, und das ist auch nicht verwunderlich. Er schweigt und tut so, als sei nichts geschehen. Es liegt in seinem Wesen, still zu werden, wenn er Angst hat.

Wahrscheinlich werden wir nie die Wahrheit über die Geschehnisse in Dagestan erfahren, aber es ist möglich, dass wir in den kommenden Monaten neuartige kleinere russische Unruhen erleben werden – als Vorboten des grossen Aufstands. Wenn dies eintritt, wird es ein Trend werden: Russland beginnt, von innen heraus zu zerfallen.

Russland hat sich mit der vom Westen unterstützten Ukraine einen so mächtigen äusseren Feind geschaffen, dass es nicht mehr über die Kraft verfügt, innere Feinde zu bekämpfen, und die inneren Feinde wissen das ganz genau.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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