Dienstag, Januar 7

Was ist eine Skulptur? Der österreichische Starkünstler hat die Plastik neu gedacht. Und zwar aus der Perspektive des Absurden. Seinen ausufernden Erfindungsreichtum kann man jetzt in einer grossen Retrospektive in der Wiener Albertina Modern entdecken.

Eigentlich wollte Erwin Wurm Malerei studieren. Aber die Professoren an der Salzburger Universität Mozarteum steckten den jungen Studenten kurzerhand in die Bildhauerei. Was für ihn zu Anfang ein Schock war, entwickelte sich bald zum Glücksfall. Denn heute ist der 1954 geborene Künstler ein weltweit gefragter Star. Und bis heute verfolgt er jene zentrale Frage, die er sich schon als junger Student stellte: Was eigentlich ist das, eine Skulptur?

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Ende der achtziger Jahre begann Wurm mit den zentralen Parametern des dreidimensionalen Arbeitens zu spielen: mit Volumen, Hülle und Zeit. Als den «Nullpunkt» auf seiner Suche nach neuen Wegen bezeichnet Wurm seine Staubskulpturen, mit denen auch die Schau in der Albertina Modern beginnt: In einer Vitrine der Wiener Ausstellung sieht man kaum sichtbare Staubspuren. Es sind Erinnerungen an einen Gegenstand.

Oder die kleinen Kugeln aus zusammengepressten Farbresten: Sie muten an, als wollte Wurm damals die Malerei in das Korsett der Skulptur zwingen. Aber es war auch ein erstes Spiel mit der vagen Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität – etwas, das Wurm bis heute verfolgt.

Der österreichische Künstler entdeckte für sich, dass eigentlich jedes Material der Welt «der mögliche Beginn eines Kunstwerks sein kann», wie er einmal erklärte. «Die ganze Welt war wie ein Steinbruch. Das hat eine unglaubliche Freiheit dahergebracht.» Als ein zentrales Prinzip gilt ihm dabei seine Arbeit am Volumen. Das war anfangs ein T-Shirt, das er über ein Podest stülpte. Oder dann gab es den Mann, der all seine Kleider übereinander angezogen hatte, was seine Körpermasse extrem vervielfachte. Das Ergebnis hielt Wurm in einem Video fest. Es war zugleich der Beginn seiner wegweisenden Serie, mit der er Ende der neunziger Jahre berühmt wurde: der «One Minute Sculptures».

Der Künstler als Bürgerschreck

«Kann ich aus einer Aktion eine Skulptur machen?», fragte sich Wurm. Und entwickelte Arrangements, in denen Menschen mit einem Gegenstand nur für Sekunden eine Verbindung eingehen: Flaschen, zwischen Armen und Beinen eingeklemmt; ein Eimer, auf dem Kopf balanciert; in Nase und Ohren eingesteckte Stifte. Die Aktionen halten nur wenige Sekunden, im Medium der Fotografie aber sind sie als bildliche Skulptur verewigt.

Was anfangs auf Fotografie beschränkt war, ist jetzt ein fixer performativer Bestandteil von Wurms Ausstellungen. Auf einem Podest stehen Objekte, versehen mit handschriftlichen Handlungsanweisungen. Die Besucher werden zu Taten aufgefordert, die sonst in Museen strengstens verboten sind: auf den Formen stehen, klettern, damit interagieren. In der Albertina Modern lädt Wurm dazu ein, eine rosafarbene Fläche zu betreten, eine Polizeikappe aufzusetzen und einen Stock in die Hand zu nehmen.

Ob darin eine Verarbeitung seiner Biografie mitschwingt? Erwin Wurms Vater war Polizist, was den Sohn zu einigen Streichen veranlasst haben soll. Einmal, erzählt er, habe er die Pistole des Vaters mit in die Schule genommen. Ohne Munition. Den Ärger zu Hause kann man sich vorstellen. Vor dem Hang des Sohns zur Kunst fürchtete sich der Vater, galten Künstler damals doch «als Bürgerschreck mit einem Bein im Kriminellen», wie sich Wurm erinnert.

Biografisches schwingt stets in seinem Werk mit, etwa in dem «Narrow House», einer Arbeit, die Wurms Elternhaus als zusammengeschrumpftes, klaustrophobisch-beengtes Heim zeigt. In solchen Skulpturen geht es ihm aber vor allem auch um den Zeitfaktor, um die Idee, eine Skulptur wie ein Theaterstück aufzuführen: nicht als spassiges Unterhaltungsangebot, sondern als eine Form der «Meditation», wie Wurm es nennt. Dinge sollen zum Nachdenken anregen und zum Ausgangspunkt für herausfordernde Handlungen werden, etwa, wenn wir uns mitten in der Ausstellung auf Tennisbälle legen sollen.

Solche Neudefinitionen von Skulptur bestimmen Wurms Werk durchgehend. Ende der neunziger Jahre wollte er Abbilder von Menschen schaffen, «aber ohne ins Porträthafte zu geraten», wie er sagt. Also reduzierte er sie kurzerhand auf Taschen oder Schuhe, ausgestattet mit überlangen Beinen. Das sind auch Porträts des Konsumverhaltens – Letzteres ist ein wiederkehrendes Thema in Wurms Schaffen. Für Aufsehen sorgte auch seine Serie der in Originalgrösse abgegossenen und anschliessend handbemalten Essiggurken. Im Titel erklärt der Künstler sie als «Selbstporträts» – die Anspielung auf das männliche Geschlechtsorgan ist durchaus gewollt.

Leere Hüllen

Viele reagieren auf Wurms Skulpturen mit Lachen. Aber eigentlich sei sein Werk gar nicht lustig, betont er im Gespräch. «Mir geht es darum, von der Seite auf die Realität zu blicken, von der dunklen Seite.» Humor sei nicht das Mittel, sondern das Resultat. Das Mittel sei seine Perspektive des Paradoxen. Das trifft besonders auf die Serie der «Fat»-Objekte zu, die er neuerdings in «Big» umbenannt hat – einem Museum in England war die Nähe der Bezeichnung zum Bodyshaming zu heikel.

Wurm nennt seine übergrossen Plastiken «performative Skulpturen»: der knallrote, monströs aufgeblasene Porsche zum Beispiel. Das elegante Design des Sportwagens ist durch die voluminösen Erweiterungen so deformiert, dass die Autofirma gar nicht glücklich war über das Kunstwerk. Und wohl auch nicht über die darin enthaltene Anspielung auf Gier und Überfluss.

In solchen Skulpturen nimmt Wurm das Wort «fett» ganz wörtlich, es steht für fette, PS-starke Angeberautos. In einer anderen Serie lässt er berühmte Museumsbauten schmelzen oder auch Gebäude wie eine Schule schrumpfen. In der Albertina Modern steht ein extrem schmales Haus. Man kann es betreten, muss sich aber bücken und findet sich wieder in einem Mini-Klassenzimmer mit Original-Schautafeln an den Wänden, die längst überholtes Wissen zeigen. Man fühlt sich fast erdrückt von der Enge der Schule – auch im übertragenen Sinn.

Erwin Wurm sieht das «Skulpturale immer im Verhältnis zum Sozialen, aber aus einer Perspektive des Absurden», wie er erklärt. In seinen neuesten Serien ist Wurm wieder bei der Hülle oder Haut angekommen. Mitten im Raum stehen lebensgrosse Kleidungen; die Menschen aber fehlen darin. «Substitutes» nennt Wurm diese Serie entindividualisierter, kopfloser Figuren, die nur mehr über ihre Kleidung existieren. Die «Skin»-Serie wiederum betrifft fast zweidimensional wirkende, bandartige Umrissformen – lebensgrosse Fragmente von Körpern, eingefrorene Bewegungen, allerdings nicht mehr im Medium der Fotografie festgehalten wie früher in seinem Schaffen, sondern in Aluminium gegossen.

Als Finale der Wiener Schau steht eine riesige, silberne Figur im halbrunden Raum: Frei nach Auguste Rodins «Monument to Balzac» schuf Wurm eine Plastik, in der der Mensch im Chaos der Kleidung verschwindet. Auch hier gilt das Credo von Wurms Bildhauerei: Wenn sich das Volumen ändert, ändert sich der Inhalt.

In Aluminium gegossene Bewegungen: zwei Skulpturen aus der «Substitute»-Serie (links) und aus der «Skin»-Serie.

«Erwin Wurm – Die Retrospektive zum 70. Geburtstag», Albertina Modern, Wien, bis 9. März 2025.

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