Dienstag, Oktober 8

Mit einem intelligenten Einbezug der Talsperren lässt sich die Gefahr von Überschwemmungen im Bergkanton laut Experten senken.

Die Unwetter im Wallis im Juni hinterliessen eine Spur der Verwüstung: Strassen und Bahntrassees wurden weggespült, Brücken beschädigt, die Untergeschosse von Häusern und Industriebetrieben überschwemmt. Erst traf es die Ortschaft Zermatt, später wurden weiter unten im Tal auch die Gemeinden Siders und Chippis mit ihren Industriezonen überflutet. Noch immer etwa stehen die Maschinen des Aluminiumherstellers Novelis still. Auf über 70 Millionen Franken schätzt allein dieses Unternehmen die Kosten der Unwetterkatastrophe.

Wasserkraftanlagen verhinderten weitaus grössere Schäden

Es wäre allerdings alles noch viel schlimmer gekommen, wenn nicht die Staudämme in der Region einen Teil der Wassermassen aufgehalten hätten. In Sitten lag die Durchflussmenge mit 921 Kubikmetern pro Sekunde sogar leicht höher als beim historischen Hochwasser der Rhone vom Oktober 2000. Doch konnten dank den Wasserkraftanlagen sowohl an der Rhone als auch in den Seitentälern grössere Schäden verhindert werden.

Im Mattertal beispielsweise wurde über zwei Pumpstationen im Hochgebirge sowie der Wasserfassungen im Tal ein Teil der Wassermassen in den Grande-Dixence-Stausee umgeleitet. «Ohne diese Anlagen wäre der Abfluss der Hochwasserspitze in der Gemeinde Zermatt um 40 bis 60 Prozent höher gewesen», erklärt Jonathan Fauriel, Leiter Bauingenieurwesen und Umwelt beim Energiekonzern Alpiq, in einem Beitrag, der vor kurzem auf der Website des Verbands der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen (VSE) publiziert wurde. Doch auch weiter unten im Tal konnte die Wassermenge der Rhone dank den Staudämmen in der Region gemäss Schätzung des Alpiq-Mannes um etwa 20 Prozent verringert werden.

Gar gänzlich verhindert worden wären die Überschwemmungen in Zermatt laut Fauriel, wenn bereits heute der Gornerli-Staudamm vorhanden gewesen wäre. Der am Fusse des Gornergletschers geplante Speichersee ist das mit Abstand wichtigste der 16 Wasserkraftprojekte, die der Bund im neuen Stromgesetz verankert hat. Er soll ab 2031 die natürlichen Zuflüsse wie Schmelzwasser speichern, wenn nicht Landschaftsschützer das Projekt blockieren – und damit Strom für rund 140 000 Haushalte liefern. «Die Staumauer hätte weitere 50 bis 60 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zurückgehalten. Die Vispa hätte also weder in Zermatt noch flussabwärts Schäden verursacht», so Fauriel. Auch hätten die Verwüstungen durch das Rhone-Hochwasser verringert werden können, so der Bauingenieur, dessen Arbeitgeber federführend bei der Planung und Realisierung des Speichersees ist.

Die Befunde von Jonathan Fauriel werden von der Wissenschaft gestützt. «Der geplante Stausee am Gornerli hätte die Schäden in Zermatt weitgehend verhindert», sagt Robert Boes, Professor für Wasserbau an der ETH Zürich. Komme von der Gornera aufgrund von Unwettern und Gletscherschmelze ungewöhnlich viel Geröll und Wasser herunter, funktioniere der Speichersee wie ein riesiger Puffer. Die Talsperre würde laut Boes auch weiter unten im Rhonetal eine spürbare Entlastung bringen. Er schätzt, dass bei einem Hochwasser der Flusspegel der Rhone bei Visp um 15 bis 20 Zentimeter gesenkt werden könnte.

Gornerli-Staudamm bringt Mehrfachnutzen

Die «Badewanne» Gornerli ist bewusst so konzipiert, dass sie mehrere Zwecke erfüllt – neben der Stromerzeugung soll sie auch der Versorgung mit Trinkwasser und Bewässerungswasser dienen sowie Hochwasserspitzen brechen. So soll die Staumauer bewusst etwas höher gebaut werden, um damit ein fixes Rückhaltevolumen zu schaffen. Im Gegensatz dazu wurden die meisten Staudämme im Wallis zwischen den 1950er und den 1970r Jahren gebaut, also bevor der Kampf gegen den Klimawandel zu einer Priorität wurde. Sie sollen nun ihren Betrieb anpassen, um weitere Zwecke als nur die Stromproduktion zu erfüllen.

Dazu nötig ist laut Boes ein proaktives Management der Speicherseen. «Zeichnen sich Starkniederschläge ab, können die Stauseebetreiber vor dem Ereignis Wasser turbinieren, um mehr Speicherraum zur Verfügung zu stellen.» Die Crux liegt laut dem ETH-Professor allerdings in der Umsetzung: Die Wetterprognosen sind meist nur für ein bis zwei Tage zuverlässig. Erweisen sie sich als falsch, verlieren die Kraftwerksbetreiber Wasser für nichts.

Den Hochwasserschutz verbessern kann laut Boes auch die Einführung einer Stauzielbegrenzung. Dabei müssten die Kraftwerkbetreiber die obersten Meter im Stausee freihalten – im Gegenzug erhielten sie vom Kanton eine Entschädigung. «Entscheidend ist dabei, wie viel der Allgemeinheit der Hochwasserschutz wert ist», sagt der ETH-Professor. Bei einzelnen Stauseen wie dem Mattmarksee im Wallis besteht ein solcher Mechanismus bereits heute. Bei anderen müsste ein solcher erst festgelegt werden.

Überflutungen könnten mit diesen Massnahmen wie auch der Realisierung des Gornerli-Projekts vermindert werden. Im Hochwasserschutz allein auf die Rückhaltewirkung der Stauseen zu setzen, reicht laut Boes für die Rhone allerdings nicht. «Das Hochwasser in Chippis hat eindrücklich gezeigt, dass gewisse Risiken bestehen bleiben», sagt der Wissenschafter. Es brauche deshalb auch zusätzliche Massnahmen im Tal, um in Zukunft die Gefahr von Hochwassern zu minimieren.

Exit mobile version