Sonntag, November 17

Innerhalb von Ethereum tobt ein Richtungsstreit. Investoren und Entwickler des Computernetzwerks fragen sich: Stimmt die eingeschlagene Richtung, heute auf Gebühren zu verzichten, um morgen umso dominanter zu sein?

Wäre Ethereum eine Aktionärsgesellschaft, das Protokoll hätte wohl lauter zufriedene Investoren. Der Marktwert der grössten Blockchain nach Bitcoin ist im Steigen begriffen: Innert Jahresfrist haben alle Ether zusammengenommen – so heissen die Token von Ethereum – um 80 Milliarden Dollar zugelegt. Ethereum ist derzeit dreimal so viel wert wie die UBS.

In der Krypto-Branche jedoch findet man diesen Zuwachs ausgesprochen enttäuschend. Werte sind relativ: Der Kurs von Solana etwa, dem schärfsten Konkurrenten von Ethereum, liegt ungleich stärker im Plus. Das macht die Ethereum-Gemeinde zunehmend nervös.

Ethereum und Solana haben Stiftungen in Zug

Die beiden führenden Blockchains haben übrigens einen starken Schweiz-Bezug: Ethereum und Solana verfügen über gut dotierte Stiftungen in Zug, die sich an der Weiterentwicklung dieser digitalen Plattformen beteiligen.

Ethereum hat dabei besonders ehrgeizige Ziele: Einerseits will das Protokoll Ether als digitales Geld etablieren, das noch härter ist als Bitcoin – dank einer sinkenden Geldmenge. Das Motto heisst «ultra sound money».

Anderseits aspiriert Ethereum darauf, eine Art Weltcomputer werden, über den Transaktionen mit allen erdenklichen digitalen Vermögenswerten abgewickelt und verbucht werden können.

Vielleicht ging die Strategie zu gut auf

Doch plötzlich kommen in der Krypto-Branche Zweifel auf, ob Ethereum diesen hohen Ansprüchen gerecht werden kann. Das erstaunt. Denn eigentlich hat Ethereum, angeleitet vom Gründer und Vordenker Vitalik Buterin, in den letzten Jahren einen grossen Sprung nach vorne gemacht. Unter anderem sank der Strombedarf des Protokolls spektakulär um 99 Prozent.

Das Problem ist vielleicht, dass die Pläne, Ethereum zukunftsfähig zu machen, fast zu gut funktionieren. Die Blockchain hat es nämlich geschafft, ihre grösste Schwachstelle zu überwinden, ihre Ineffizienz.

Sie will besonders sicher sein, also die Transaktionen ihrer Nutzer in einem möglichst weitläufigen dezentralen Netzwerk von unabhängigen Computern abwickeln. Das jedoch geht auf Kosten der Geschwindigkeit. Zudem sind die Nutzungsgebühren von Ethereum oft sehr hoch.

Flaschenhals ist beseitigt

Diesen Flaschenhals konnte die Ethereum-Community beseitigen, indem sie starke Anreize für Partner-Blockchains setzt, Transaktionen schneller und preiswerter durchzuführen, als dies auf Ethereum selbst möglich wäre.

Diese sogenannten Rollups oder Layer-2-Protokolle bündeln eine Vielzahl von einzelnen Transaktionen und verbuchen diese erst danach auf Ethereum. Diese Arbeitsteilung macht das ganze Ökosystem schneller und kostengünstiger.

Und ist für die Partner-Protokolle sehr lukrativ: Deshalb entstehen derzeit viele neue Layer-2-Protokolle, die an Ethereum andocken. Das Ökosystem wächst, die Übermacht von Ethereum ist erdrückend, wenn man all seine Partnernetze mitberücksichtigt.

Das Problem ist bloss: Von den Nutzergebühren, die zunehmend auf diesen Layer-2-Protokollen anfallen und nicht mehr auf Ethereum, sehen deren Validatoren nur wenig.

Die Geldmenge steigt wieder

Das hat zu einem Einnahmenrückgang und einer weiteren Konsequenz geführt: Die angestrebte Verknappung der Geldmenge – ein Teil der Gebühren von Ethereum wird nämlich für die Vernichtung von Ether verwendet – findet nicht mehr statt. Die Geldmenge steigt sogar wieder an und drückt auf den Ether-Preis.

Nicht wenige Ethereum-Entwickler und -Investoren sehen Layer-2-Protokolle wie Arbitrum, Optimism, Base oder die vor kurzem angekündeten Unichain und Ink deshalb als Parasiten, die das Layer-1-Protokoll, also Ethereum, aussaugen. Sie seien Konkurrenten und nicht Partner. Kurz: Im Ethereum-Ökosystem herrscht Futterneid.

Das Verhältnis zwischen Layer 2 und Layer 1 könne sowohl symbiotisch als auch parasitär sein, sagt Fabian Schär, Blockchain-Professor an der Universität Basel. Im Idealfall erhöhten Layer 2 die Relevanz von Ethereum und generierten eine konstante Nachfrage des Layer-1-Assets, also Ether.

«Der Layer 2 schreibt ja letztlich einen Teil der Daten auf die Layer-1-Blockchain und bezahlt dafür.» Dieser Effekt sei insbesondere dann gross, wenn der Layer 1 als Basisinfrastruktur für viele verschiedene Layer 2 diene und ein gewisser Wettbewerb spiele.

«In der gegenwärtigen Phase überwiegt aber eher der konkurrierende Effekt. Insbesondere bei den dezentralisierten Finanzapplikationen findet eine Substitution statt und Layer 2 erzielen derzeit hohe Gewinne, während die Entlohnung für Validatoren auf Ethereum rückläufig ist», sagt Schär.

Verfolgt Ethereum eine Amazon-Strategie?

Gelingt die auf langfristiges Wachstum ausgerichtete Strategie von Ethereum und seinem Übervater Vitalik Buterin? Ist Ethereum eine Art Amazon der Blockchain-Welt, die heute bewusst auf Einnahmen verzichtet, um morgen umso grösser und dominanter zu werden? Oder sind die Anreize für die Rollups schlicht zu grosszügig bemessen und deshalb destabilisierend? Diese Frage wird derzeit in der Branche heftig diskutiert.

Auch Experten tun sich schwer mit klaren Antworten. «Ethereums Skalierungsstrategie durch Layer 2 setzt darauf, bisher unmögliche Transaktionen zu ermöglichen und das Ökosystem auf ein grösseres Volumen zu bringen, was zu einem Nettowachstum führen soll», sagt Katalin Tischhauser, Head of Investment Research bei der Sygnum Bank.

Da die Krypto-Märkte in letzter Zeit relativ ruhig gewesen seien, bleibe es aber unklar, ob diese Strategie das Wachstum tatsächlich fördere oder eher bestehende Marktanteile umverteile.

Tischhauser glaubt trotzdem, dass Ethereums langfristige Strategie aufgeht – trotz den kurzfristigen Nachteilen, die sich mit den neuen Layern 2 von Ink oder Unichain noch akzentuieren.

Grosse Anziehungskraft

Auch bei der zweiten Schweizer Krypto-Bank, Amina, zeigt man sich eher zuversichtlich für die langfristigen Aussichten von Ethereum. «Deren umfangreiches Entwickler-Ökosystem und bewährte Zuverlässigkeit haben sowohl Krypto-Projekte als auch traditionelle Unternehmen wie Sony und Samsung angezogen», schrieb die Bank vor kurzem in einem Kommentar.

Die meisten Rollups verliessen sich auf Ethereum für die Sicherheit und die Überprüfung der Transaktionshistorie, wodurch eine symbiotische Beziehung entstehe. «Diese gegenseitige Abhängigkeit legt nahe, dass Layer 2 die Kernfunktionalität von Ethereum eher ergänzen als mit ihr konkurrieren», so Amina.

Vitalik Buterin zeigt sich unbeirrt und will am eingeschlagenen Weg festhalten, der Ethereum-Roadmap. Gleichzeitig sieht er die Probleme, die mit wuchernden Layern 2 einhergehen. Er plädiert zum Beispiel für eine gewisse Standardisierung. «Ethereum sollte sich anfühlen wie ein Ökosystem, nicht wie 34 verschiedene Blockchains», schrieb Buterin unlängst.

Er veröffentlicht derzeit ungewohnt viele Blog-Einträge und Änderungsvorschläge. Da Ethereum aber kein Unternehmen ist und Buterin formal keine Position innehat, kann er seine Mitstreiter nur kraft seiner Autorität und mit Argumenten überzeugen.

Interner Widerspruch

«Ethereum steht nun vor der Herausforderung, dass es einerseits möglichst offen für viele verschiedene Layer 2 sein möchte und seine Roadmap konsequent auf Skalierung über sogenannte Rollups ausgerichtet hat», sagt Schär.

«Andererseits werden Stimmen in der Ethereum-Community laut, die einen klareren Fokus auf die Weiterentwicklung und Skalierung von Ethereum selbst sehen möchten und das Abwandern bestimmter Anwendungen als problematisch erachten.» Dies führe zu spannenden Governance-Fragen mit vielen involvierten Stakeholdern.

Wie diese Fragen beantwortet werden, ist viel wichtiger für die Zukunft der Blockchain-Branche als die kommenden US-Präsidentschaftswahlen oder wie künftig der Chef der amerikanischen Börsenaufsicht heisst, von der derzeit viele Projekte drangsaliert werden. Präsidenten kommen und gehen, Ethereum bleibt.

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