Montag, Januar 20

Der Schweizer Dichter Eugen Gomringer hat die konkrete Poesie erfunden. Wie ein wilder Streit in Berlin vor wenigen Jahren bewies, hat sie nichts von ihrer revolutionären Kraft verloren.

Er kam aus dem Urwald Boliviens. Sein Vater war ein ausgewanderter Schweizer, Direktor einer Kautschuk- und Gummifabrik und lebte in wilder Ehe zusammen mit der indigenen Delicia Rodríguez, die ungeachtet ihres klingenden Namens des Lesens unkundig war. Und wenn man sich dann auch noch Eugen Gomringers Geburtsort auf der Zunge zergehen lässt – Cachuela Esperanza –, dann denkt man sich: Dieses vor hundert Jahren geborene Kind konnte nichts werden, es sei denn ein Dichter.

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Vom Urwald und von der Mutter aber musste sich das Kind schon mit drei Jahren trennen. Es wurde den Grosseltern in der Schweiz anvertraut, aus Bolivien kamen dann gelegentliche Besuche und lange Briefe. Und mit dem Dichten war es einstweilen auch nichts. Erst wurde der junge Eugen Gomringer 1944 Offizier und träumte von einer Karriere in der Schweizer Armee, studierte dann aber Nationalökonomie und Kunstgeschichte.

Vielleicht war diese exquisite Mischung ein letzter Versuch, das Unvermeidliche abzuwenden. Denn bereits als 19-Jähriger kam Gomringer in Zürich mit der konkreten Kunst von Max Bill, Camille Graeser oder Verena Loewensberg in Kontakt. Das wiederum inspirierte ihn dazu, in der Sprache Ähnliches zu versuchen, gleichsam mit der Sprache zu malen. Freilich dauerte es dann noch einmal zehn Jahre, ehe er zu gestalten wagte, was ihm vorschwebte.

Verneigung vor der Mutter

Wäre es verwegen, zu denken, dass es eine Verneigung vor seiner Mutter Delicia gewesen sein könnte? Denn was waren ihr Worte anderes als etwas seltsam anmutende Zeichnungen? Sie hätte seine Gedichte nicht lesen müssen, sie hätte sie angeschaut. Genau dies aber hatte Eugen Gomringer mit seiner konkreten Poesie im Sinn: Man konnte das, was er fortan auch Konstellationen nennen sollte, zwar lesen. Erspriesslicher aber war es, die Gebilde lange anzuschauen.

Eine der schönsten und trefflichsten Konstellationen von Eugen Gomringer heisst «schweigen». Das Gedicht entstand in den frühen 1950er Jahren und umfasst fünf Verse. Verse eins und zwei sowie vier und fünf lauten: «schweigen schweigen schweigen». Im dritten Vers klafft anstelle des mittleren «schweigen» eine Lücke. Dort tut das Gedicht, wovon es handelt, es zeigt das Schweigen und macht es als Bild sichtbar.

Die Mutter Delicia hätte ihre helle Freude daran gefunden, sie hätte es verstanden, ohne es gelesen zu haben. Die Gralshüter der Poesie waren indessen keineswegs amüsiert: «Gomringer kann nur stottern», konnte man lesen.

Ein Bewunderer zu viel

Sechzig Jahre später – man hatte sich längst an Schlimmeres als Gomringers Konstellationen gewöhnt – erregte eines seiner Frühwerke abermals Anstoss. Seit 2011 prangte an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule Berlin das Gedicht «avenidas» aus dem Jahr 1951. 2017 waren einige Studentinnen und Studenten gar nicht mehr amüsiert von dem Gedicht. Sie fanden, es setze Frauen herab, weil an dessen Ende «un admirador», ein Bewunderer, «avenidas», «flores» und «mujeres», also Frauen, unterschiedslos gleichermassen bewundert.

Noch ehe eine ernsthafte Diskussion darüber entstehen konnte, ob das Gedicht denn überhaupt noch etwas taugt, entbrannte ein wüster Streit über die angeblich frauenverachtenden Verse. An dessen Ende knickte die Schule ein und übermalte Gomringers Harmlosigkeit mit einer politisch korrekten Harmlosigkeit der Dichterin Barbara Köhler.

Man kann wohl sagen, dass nicht alle Gedichte Gomringers gut gealtert sind. Dass es sie und ihn gegeben hat, ist allerdings ein Glück für die Literatur. Dass es Eugen Gomringer noch heute gibt, ist ein Geschenk: Er ist Zeuge einer fernen Epoche, als die moderne Dichtung geboren wurde.

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