Dienstag, Oktober 8

Die Strafzölle der EU gegen chinesische Elektroautos markieren einen Wendepunkt im Umgang Europas mit der Volksrepublik. Für die zunehmende Entfremdung gibt es drei Gründe.

Die Geopolitik hat Europa erreicht. Die EU hat am Freitag Strafzölle von bis zu 35 Prozent auf chinesische Elektroautos beschlossen. Die nötige Anzahl Gegenstimmen kam in der Abstimmung der Mitgliedstaaten nicht zustande. Damit treten die Zölle, die Brüssel im Juli provisorisch gesprochen hat, Ende Oktober in Kraft. Die Zeiten, in denen die Aussicht auf Gewinn und Geschäfte in China die diplomatischen Beziehungen beherrschte, sind vorbei.

Das ist eine Zäsur. Europa ist bereit, zu China auf Distanz zu gehen.

Es gibt weitere Ereignisse, die diese Feststellung untermauern: Ende letzten Jahres ist Italien aus dem geostrategischen Grossprojekt des chinesischen Partei- und Staatschefs Xi Jinpings, der neuen Seidenstrasse, ausgetreten. In Grossbritannien, Frankreich und Deutschland wurden in den letzten Monaten chinesische Spione verhaftet – ein klares Signal an Peking. Im September fuhr zum ersten Mal ein deutsches Kriegsschiff durch die Strasse von Taiwan. «Internationale Gewässer sind internationale Gewässer», sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius lapidar dazu.

Europa betrachtet China als strategischen Rivalen. Dieser Sichtwechsel hat sich nicht von heute auf morgen vollzogen. Es war eine Entwicklung in Schritten, die sich über die letzten Jahre hinzog. Drei Faktoren waren dafür bestimmend.

Europa folgt den USA – aber nicht blind

Ein Einflussfaktor für die zunehmende Entfremdung Europas von China war sicherlich die schon seit einigen Jahren stärker konfrontativ ausgerichtete Chinapolitik der USA. Unter der Präsidentschaft Trumps haben amerikanische Botschaften darauf hingearbeitet, die Regierungen europäischer Länder davon zu überzeugen, es ihnen gleichzutun. Damals ging es um das Mobilfunknetz 5G: Europa sollte Huawei-Komponenten aus seiner kritischen Infrastruktur ausschliessen, so wie die USA.

Für Europa war die Dominanz von Huawei im 5G-Bereich in vieler Hinsicht ein Weckruf. Politiker realisierten, dass eine chinesische Firma auf gleichem technischem Niveau lag, aber billiger war als europäische Anbieter wie Ericsson oder Nokia. Die Verwendung von Huawei-Komponenten in europäischen Netzwerken war deshalb schon weit fortgeschritten; ein sofortiger Ausstieg wäre sehr teuer geworden.

Wenn über ihn diskutiert wurde, folgten Drohungen aus China. Das hingegen hatte die gegenteilige Wirkung und spielte den amerikanischen Diplomaten in die Hände. Mittlerweile haben viele Länder Europas Beschränkungen für Huawei-Komponenten beschlossen, zuallererst Grossbritannien, aber auch Schweden, Frankreich, Italien, Dänemark, zuletzt auch Deutschland.

Und doch folgt Europa nicht einfach blind den USA. Das zeigen neben dem differenzierten Umgang mit Huawei auch die Strafzölle gegen E-Autos aus China: Während die USA pauschal Zölle in der Höhe von 100 Prozent verfügten, fällt das Zollregime der EU differenzierter und tiefer aus. Je stärker ein Hersteller von staatlichen Subventionen profitiert und je weniger er mit den EU-Behörden kooperiert, desto höher sind die Zölle. Sie reichen von 7,8 für Tesla aus der Fabrik in China bis zu 35,3 Prozent für E-Autos der Marke SAIC aus Schanghai.

Pekings Machtpolitik schadet der Beziehung zu Europa

Für die USA ist ausschlaggebend, dass Chinas Aufstieg ihre dominante Rolle in der Weltpolitik bedroht. Die China-Politik wurde deshalb zur Frage der nationalen Sicherheit.

Für Europa hat die Sicherheitsfrage ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Die Corona-Pandemie und der russische Angriff auf die Ukraine haben offengelegt, was es bedeutet, abhängig zu sein von kritischen Gütern aus einem Staat, dem man nicht vertrauen kann. Beide Krisen haben in Europa zu einem realistischeren China-Bild geführt.

Während der Corona-Pandemie hat China anfangs aus geopolitischem Kalkül einigen Staaten wie Italien oder Brasilien rasch Masken und Impfstoffe geliefert. Chinas Propaganda hat aus der globalen Krise einen Systemwettbewerb gemacht, anstatt die Zusammenarbeit zu suchen. «Wir sind schneller und besser mit Corona fertiggeworden als westliche Demokratien», hiess es aus Peking. Gleichzeitig verwehrte China der eigenen Bevölkerung Impfstoffe aus Europa und den USA wie jenen von Biontech/Pfizer. Untersuchungen zum Ursprung des Coronavirus, die wichtig wären, um eine erneute Pandemie zu verhindern, blockieren Pekings Behörden bis heute.

Das Grundgefühl, das bei vielen europäischen Politikern nach der Pandemie zurückblieb, war: In Krisenzeiten können wir nicht auf China zählen.

Gravierender noch für das Vertrauen in China war Pekings Unterstützung des russischen Angriffskriegs. Das Aussenministerium bestreitet diese, doch die Handelsstatistiken sprechen eine deutliche Sprache. Chinas Handelsvolumen mit Russland ist seit dem Krieg stark angestiegen und federt die westlichen Sanktionen ab. Gleichzeitig liefern chinesische Unternehmen Waffenkomponenten und Maschinen für die russische Kriegsindustrie.

China hat Russlands Angriff nie klar und konsequent verurteilt. Gerade in den Ländern Mittel- und Osteuropas, mit denen China hervorragende diplomatische Beziehungen pflegte, wird China wegen seiner engen Freundschaft zu Russland nun immer stärker als Bedrohung wahrgenommen.

Peking könne nicht gleichzeitig Russland unterstützen und mit dem Westen auf Schönwetter machen, sagte der Nato-Chef Jens Stoltenberg im Juni in Washington. «An einem gewissen Punkt müssen die westlichen Verbündeten dafür die Kosten erhöhen, es sei denn, Peking ändert seinen Kurs.»

Der chinesische Markt verliert an Bedeutung

Noch vor fünf Jahren wäre es in Europa undenkbar gewesen, im gleichen Atemzug mit China das Wort Diversifizierung in den Mund zu nehmen. Heute gehört der Begriff De-Risking zum normalen politischen Jargon in Brüssel. Mit den Strafzöllen geht Europa einen Schritt in Richtung Protektionismus. Es geht darum, die heimische Autoindustrie zu schützen, ihr Zeit zu verschaffen, um gegenüber der chinesischen Konkurrenz aufzuholen.

Dafür ist Europa offenbar bereit, einen Handelskrieg mit China zu provozieren. China hat bereits als drohende Geste eine Dumping-Untersuchung zu Milchprodukten aus der EU eingeleitet.

Das war schlau. Die Absicht dahinter war wohl, die mächtige Bauernlobby in der EU dazu zu bewegen, sich gegen die Strafzölle auszusprechen. Aufgegangen ist die chinesische Taktik hingegen nicht. Die Europäische Kommission hat bei der Welthandelsorganisation eine formelle Beschwerde gegen die von China eingeleitete Untersuchung zu EU-Milchprodukten eingereicht.

Europa ist auch bereit, das Risiko einer Eskalation zu tragen, weil die Kosten dafür gesunken sind. Der chinesische Markt bleibt wichtig, auch als Quelle der Innovation für hiesige Firmen. Als Absatzmarkt hat er aber an Bedeutung eingebüsst. Das zeigt das Beispiel Deutschlands: Im ersten Halbjahr hat Polen China als wichtigsten Absatzmarkt für deutsche Exporte überholt. Seit 2020 schwindet der Anteil der deutschen Exporte, die nach China gehen, kontinuierlich. 2023 war China zwar immer noch der wichtigste Handelspartner Deutschlands, doch nur mit einem geringen Abstand vor den USA. Grund dafür ist die schwächelnde Wirtschaft in China – die Nachfrage nach Importgütern ist gesunken.

Nun hat sich Chinas Zentralregierung zwar Ende September zu einer Finanzspritze von umgerechnet zirka 284 Milliarden Dollar und zu geldpolitischen Massnahmen durchgerungen. Doch um das Vertrauen in Chinas Wirtschaft wiederherzustellen und den Konsum anzukurbeln, reicht das nach Auffassung der meisten Experten nicht.

Xi Jinping scheint kein Fan von grossen Rettungspaketen zu sein. Er will die Wirtschaft strukturell umkrempeln und Abhängigkeiten vom Immobilien- und Bausektor reduzieren. Peking scheint sich mit einem viel schwächeren Wachstum in den nächsten Jahren abgefunden zu haben – dass der Markt unattraktiver für ausländische Investoren wird, ist die logische Konsequenz davon.

China hat in den letzten Monaten einiges versucht, um Europa zu umwerben. Das Aussenministerium hat die Visumspflicht fallengelassen für die Bürger der grössten Wirtschaftsnationen Europas. Peking hat einen Sondergesandten in die Ukraine geschickt, der im Krieg vermitteln soll. Xi Jinping hat die Offenheit gegenüber ausländischen Investoren und seinen Reformwillen bekräftigt. Doch letztlich scheiterte die chinesische Charme-Offensive an der geopolitischen Realität.

Xi Jinpings Prioritäten liegen nicht in Europa, sie liegen auch nicht bei der Wirtschaft. Xi hat sich mit den USA angelegt – und er ordnet dieser Konfrontation alles andere unter. Unterstützer im Machtkampf findet er in Russland, in Iran, in Nordkorea. Zwei Länder in Europa, beide von Autokraten regiert, bleiben ihm noch als feste Partner: Ungarn und Serbien. Nach Ungarn flossen letztes Jahr fast die Hälfte aller chinesischen Direktinvestitionen in Europa.

Und so hat sich Peking selbst zuzuschreiben, wenn ihm die EU zunehmend entgleitet. Die Zölle gegen E-Autos aus China sind ein grosser Schritt, auf den weitere folgen werden. Xi hält an seinem Kurs fest, und Europas Distanzierung von China schreitet voran. Es ist ein Preis, den Peking offenbar zu zahlen bereit ist.

Exit mobile version