Freitag, Oktober 4

Der EU drohe «ein langsamer Todeskampf», wenn sie nicht massiv investiere, sagt der Ex-EZB-Chef. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schliesst eine erneute gemeinsame Verschuldung nicht aus.

Mario Draghi gilt als der «Retter des Euro». Schliesslich gelang es dem langjährigen Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) unter anderem mit seiner berühmten «Whatever it takes»-Ansage, bei der Währungskrise 2012 die Märkte zu beruhigen. Und nun soll der 77-Jährige gleich auch noch die EU retten?

So erscheint es, wenn man den dicken Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU liest, den er und sein Team während eines Jahres erarbeitet haben. Am Montag stellte Draghi die Ergebnisse in der EU-Zentrale vor und erhielt dafür breiten Zuspruch. Seine Analyse werde die künftige EU-Politik wesentlich beeinflussen, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie hatte Draghi vor einem Jahr beauftragt.

Dabei zeichnet der joviale Italiener ein ziemlich düsteres Bild der EU. Kernbotschaft: Ihre Wettbewerbsfähigkeit habe jüngst stark gelitten – notabene im Vergleich zu den USA. Draghi unterstreicht seine Aussage mit einer ganzen Reihe von Statistiken, Grafiken und Kurven.

Die «Einhörner» wandern aus

Vergleicht man die beiden Bruttoinlandprodukte, hat sich die Schere in den letzten zwei Jahrzehnten geöffnet. Hauptgrund dafür ist der Produktivitätsunterschied – was sich auch im Portemonnaie der Bürger niederschlägt. In den USA ist das Pro-Kopf-Einkommen seit dem Jahr 2000 fast doppelt so stark gestiegen wie in der EU. Auch China holt rasch auf.

Will die EU aber Errungenschaften wie die soziale Wohlfahrt, das verhältnismässig geringe Niveau an gesellschaftlicher Ungleichheit, den Umweltschutz oder das ausgebaute Gesundheitssystem bewahren, braucht sie dringend mehr Wachstum. Europa hat dabei vorgemacht, wie es nicht geht – Investitionen in wachstumsstarke Technologiebranchen hinken kläglich hinterher.

Ein Vergleich ist dabei besonders augenscheinlich: Die drei amerikanischen Firmen, die am meisten in Forschung und Innovation investierten, stammten in den 2000er Jahren aus der Auto- und der Pharmabranche, in den 2010er Jahren aus der Hard- und Software-Industrie und in den 2020er Jahren aus dem Digitalsektor, bei dem derzeit die künstliche Intelligenz der grosse Wachstumstreiber ist. In der EU gaben laut dem Draghi-Bericht hingegen in all diesen Jahrzehnten die drei grössten Autofirmen am meisten Geld für Innovation aus.

Die Konsequenz daraus zeigt sich bei den sogenannten «Einhörnern», also Startups mit einem Marktwert von über einer Milliarde Dollar. Von den 147 erfolgreichsten Jungfirmen, die seit dem Jahr 2000 in der EU gegründet wurden, sind 40 weggezogen – die meisten in die USA. Dort sind die Wachstumsaussichten besser und, mindestens so bedeutsam, die regulatorischen Einschränkungen weniger strikt.

Trotz gemeinsamem Binnenmarkt ist die europäische Wirtschaft deutlich stärker fragmentiert, und die nationalen Interessen divergieren teilweise. Laut Bericht gibt es in der EU 34 verschiedene Mobilfunkbetreiber, während es in den USA und in China nur je eine Handvoll sei. Draghi plädiert dafür, dass die EU ihre Wettbewerbspolitik überdenkt und Fusionsbestrebungen künftig weniger streng beurteilt – ein wenig versteckter Seitenhieb an die abtretende Kommissarin Margrethe Vestager, die sich stets gegen eine zu grosse Marktmacht einzelner Firmen gewehrt hat.

Doppelt so viel wie der Marshall-Plan

Kurz: So könne es nicht weitergehen, konstatiert Draghi – und verlangt von den europäischen Hauptstädten einen «radikalen Wandel». Es brauche eine koordinierte Industriepolitik, einen vollständig integrierten Kapitalmarkt, zügigere Entscheidungen und massive Investitionen. Die Herausforderungen seien «existenziell».

Konkret fordert der ehemalige Zentralbanker, dass innerhalb der EU jährlich 750 bis 800 Milliarden zusätzlich in zukunftsweisende Technologien, aber auch in die Verteidigung, Dekarbonisierung oder länderübergreifende Energie-Infrastrukturen investiert werden. Das entspricht 4,4 bis 4,7 Prozent des EU-BIP. Zum Vergleich: Der Marshall-Plan, mit dem die USA Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Sprünge half, betrug 1 bis 2 Prozent des damaligen europäischen BIP.

Das Geld wächst allerdings auch in Brüssel nicht auf Bäumen. Woher soll es also kommen? Einen Teil der Investitionen soll der Privatsektor beitragen. Das wird aber nicht annähernd ausreichen. Für Draghi ist deshalb «eine gewisse gemeinsame Finanzierung für Investitionen erforderlich».

Erneut gemeinsame Schulden?

Allzu viele Optionen gibt es nicht: Entweder erhöhen die Mitgliedsstaaten ihre jährlichen Beiträge massiv, was angesichts der klammen Finanzlage grosser Länder wie Italien oder Frankreich ein zu grosser Kraftakt sein könnte. Oder aber die EU nimmt erneut gemeinsame Schulden auf – und überträgt damit die finanzielle Bürde auf kommende Generationen. Diesen «Tabubruch» hatte der Staatenbund vor drei Jahren im Rahmen des Corona-Aufbaufonds zum ersten Mal begangen.

Kommissionspräsidentin von der Leyen verzichtete am Montag wohlweislich darauf, sich jetzt schon festzulegen: «Beide Wege sind möglich – wir müssen nun zuerst die Prioritäten setzen», sagte sie. Noch diese Woche will sie die Mitglieder ihrer Kommission der Öffentlichkeit vorstellen und ihnen dabei auch einen «Auftragsbrief» mit politischen Zielen übergeben.

Von der Leyen weiss: Sowohl höhere Mitgliedsbeiträge als auch gemeinsame Schulden haben politisch einen schweren Stand und sind der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern nur schwierig zu verkaufen. Wie die Europawahlen im Juni oder zuletzt die Landtagswahlen in zwei deutschen Bundesländern zeigen, haben derzeit Parteien Auftrieb, die eher weniger als mehr EU wollen.

Draghi verkennt mit seinem Bericht die politischen Realitäten also bis zu einem gewissen Grad. Er lässt sich davon aber nicht beirren, wie er vor versammelter Presseschar zeigte. Wenn die EU nun nicht forsch handle, drohe ihr ein «langsamer Todeskampf».

Schweiz, Grossbritannien und Norwegen ausgeklammert

Bleibt die Frage, ob das Werk des italienischen Technokraten einer jener Berichte ist, die zwar eifrig diskutiert werden, danach aber in irgendeiner Schublade verschwinden. Arturo Bris, Direktor des IMD World Competitiveness Centers, geht nicht davon aus: «Angesichts von Draghis Ruf wird der Bericht die europäischen Politiker aufrütteln. Sie werden ihn in ihr Programm für die nächsten Jahre aufnehmen», sagt er.

Der Finanzprofessor teilt Draghis Analyse grösstenteils. In einem Punkt übt er aber Kritik: Im Bericht sei zwar stets die Rede von Europa, die Nicht-EU-Staaten Schweiz, Grossbritannien oder Norwegen würden aber ausgeklammert – was die Aussagekraft schwäche: «Sobald wir ein grösseres Europa betrachten, ist unser Abstand zu den USA viel geringer», so Bris.

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